von Wladislaw Sankin
"Die Müdigkeit von diesem Konflikt ist längst auch im Bundestag angekommen", stellt Stefan Liebich als Außenpolitischer Sprecher in der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE fest. Rechts neben ihm sitzt Alexander Hug, der ehemalige Vize-Chef der OSZE-Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine. Beide wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen, um am 9. April über den Krieg in der Ostukraine zu sprechen. Moderiert wird das Podiumsgespräch von Ivo Georgiev als Referent für Mittel- und Osteuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Genau fünf Jahre ist es her, als im April 2014 die Situation in Donezk, Slowjansk, Lugansk, Charkow und mehreren anderen Städten im Osten der Ukraine außer Kontrolle geriet, jedenfalls aus Sicht der Kiewer Interimsregierung, woraufhin sie eine sogenannte Anti-Terror-Operation startete. Die dort Protestierenden betrachteten den Machtwechsel in Kiew als illegitim und besetzten kurzerhand Gebietsadministrationen und sonstige Verwaltungsgebäude. Am 7. April riefen sie die Donezker Volksrepublik aus. Beflügelt von der schnellen Lösung der "Krim-Frage", bildeten Aktivisten des Anti-Maidans und Mitglieder der lokalpatriotischen Organisationen die ersten "Volksräte" und strebten nach Übernahme politischer Macht in ihre Selbstverwaltung. Sicherheitskräfte, die meist aus der gleichen Region stammten, leisteten keinen großen Widerstand. Aber bald begannen die schwerbewaffneten Einheiten der herangeführten ukrainischen Streitkräfte mit der Erstürmung der aufständischen Hochburgen. Damit war der Ausbruch des Donbass-Krieges besiegelt.
Dieser Krieg belastet bis heute die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, während die Zivilbevölkerung leidet, sagt der Moderator Ivo Georgiev. Das mache ihn traurig. Was also ist zu tun, will er von Experten wissen, was könne die deutsche Außenpolitik leisten? Sie sitzen auf dem Podium vor ca. 40 Personen, vor allem Jüngere und Ältere, nur ganz vereinzelt sind da Interessierte mittleren Alters. Und das scheint die einzige öffentliche Diskussion zu sein, die in diesen Tagen in Deutschland dem ersten "halbrunden Jubiläum" dieses Krieges überhaupt gewidmet ist.
Schwindet mit mangelndem Interesse auch das ohnehin kaum entwickelte Verständnis für die eigentliche Problematik, die diesem Konflikt zugrunde liegt? Die Teilnehmer dieser Diskussion sagen wenig Neues. Der Schlüssel für die Lösung des Konflikts liegt in Moskau und Kiew, meint Stefan Liebich. Für eine Hoffnung, dass das Verhältnis der Ukraine zu Russland nach den Präsidentschaftswahlen entspannter wird, gebe es allerdings bislang kaum Grund, so Liebich im abschließenden Gespräch mit RT. Der Favorit Selenskij habe sich bisher noch zu unklar festgelegt.
Alexander Hug betont, der Konflikt sei künstlich, denn es gibt gar keine Gegensätze in der Bevölkerung beiderseits der 400 Kilometer langen Trennlinie. "Jeden Tag passieren bis zu 40.000 Menschen die Grenze in beiden Richtungen", sagt er. Es sei also kein Konflikt nach der verbreiteten Art ethnischer Konfrontationen.
Einen ethnischen Konflikt kann es in der Ukraine eigentlich auch gar nicht geben. Russen und Ukrainer stehen einander seit Jahrhunderten sprachlich, kulturell und anthropologisch einfach zu nahe. Die Anführer dieses "russischen Frühlings" behaupteten damals und wiederholen es heute einstimmig, den Aufständischen ging es um politische Selbstbestimmung und Antifaschismus. Der Auslöser sei der gewaltsame Machtwechsel in Kiew gewesen, wodurch der von ihnen gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt worden war.
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Die Trennlinie schneidet die Donezker und Lugansker Gebiete von Süden nach Nordosten in zwei ungleiche Hälften, trennt oft kleinere Orte mittendurch, selbst Familien. Sie fixiert weitgehend den Frontverlauf seit Februar 2015. In den kleineren, aber auch bevölkerungsreicheren Teilen liegen die "Hauptstädte" der abtrünnigen Gebiete. Dort haben sich Regierungen und Volksräte der selbstausgerufenen Republiken etabliert. Unter ihrer Verwaltung leben von drei bis vier Millionen Menschen.
Über das Grundanliegen dieser Menschen, warum sie diesen ungleichen Krieg in Kauf genommen haben, spricht an diesem Abend niemand ausführlich. Stefan Liebich kommentiert lediglich, ohne Russlands Hilfe hätten die nicht anerkannten Strukturen die Übermacht der ukrainischen Streitkräfte gar nicht überstehen können. Und doch wäre es wichtig, gerade die Grundanliegen der Menschen dort zu verstehen, zumal in deutschen Medien deren Vertreter niemals zu Wort kommen. Als "prorussische Separatisten", bestenfalls "Rebellen", werden die Bewaffneten bezeichnet. In der Europäischen Union wurden sie auf Sanktionslisten verbannt. Aber auch die Zivilbevölkerung dort bekommt kein Gesicht.
Nach Einschätzung des nach Donezk gezogenenen Publizisten Andrej Babizki ist dieser Krieg gegenwärtig der einzige Krieg, der wegen der Sprache und Kultur geführt wird. Das sagt er in einem Dokumentarfilm. Nun findet, vom Donbass aus betrachtet, in der übrigen Ukraine tatsächlich genau das statt, was diese Aktivisten des Jahres 2014 in ihrer Region zu verhindern versuchten – eine bewusst organisierte, massive De-Russifizierung und systematische Zerstörung von gemeinsamer Kultur und Geschichte, all das offenbar im Sinne einer "Gehirnwäsche" der Menschen. Mit jedem Tag rückt das von nationalistischen Kräften geführte Land immer weiter von Donbass ab, obwohl noch immer die Minsker Vereinbarungen gelten, die seine Rückkehr unter juristische Obhut der Ukraine vorsehen.
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Die Folgen dieses auf den ersten Blick "lokalen" Krieges sind vor Ort wahrhaft verheerend. Infrastruktur ist stark beschädigt, der internationale Flughafen Donezk – einst Stolz der Region – ist komplett zerstört, Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Etwa 2,8 Millionen Menschen sind geflüchtet, davon etwa 1,2 Millionen nach Russland. Laut den aktualisierten UNO-Angaben (Stand Ende Dezember 2018) hat der Krieg bisher 12.447 Todesopfer gefordert. Unter ihnen waren 3.320 Zivilisten, 3.813 ukrainische Militärangehörige und 5.314 Rebellen.
Der überwiegende Teil der zivilen Opfer starb in den von Rebellen kontrollierten Territorien und geht damit auf das Konto der Angriffe von ukrainischer Seite. Ich frage Alexander Hug, warum die Opferzahlen des Konflikts nur so pauschal genannt werden, ohne die Schuldigen zu benennen. Er weist darauf hin, dass "auf beiden Seiten aus Wohngebieten geschossen wird", was Querschläger von unpräzisen Waffen nach sich zöge. Dieser Behauptung würde man in Donezk sicherlich vehement widersprechen. Es wurde von dort versichert und oft wiederholt, dass die Stellungen eben nicht in der Nähe der bewohnten Häuser lägen. Die Opfer der Luftangriffe im Zentrum von Lugansk Anfang Juni 2014, als um diese Stadt noch gar nicht gekämpft wurde, oder am Strand in der Stadt Sugres im August desselben Jahres, fanden bei Hug keine Erwähnung.
Ich weise auch auf die politische Verantwortung für die Ukraine-Krise auf Seiten der EU-Diplomatie hin, auch auf den schwer erkennbaren Wunsch, diese Krise zu beenden. Ebenso wie die Maidan-Anführer nahmen die EU-Diplomaten in der Hochphase der Kämpfe auf dem Maidan eine drohende Spaltung des Landes sehend in Kauf. Nun wird der ukrainische Präsidentschaftskandidat Wladimir Selenskij von manchen EU-Botschaftern auf die Nationalisten-Revolte hingewiesen, sollte er ernstlich mit Putin ins Gespräch kommen wollen.
Stefan Liebich gibt zu, dass die EU seinerzeit "Fehler gemacht hat" und die Frage mit dem EU-Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU zu "technisch" betrachtet hat. Er sieht allerdings die wahren Wurzeln des Problems in einer irgendwie "unglücklichen Entwicklung", die nahezu alle postsowjetischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion durchgemacht hätten. Damals sollte auch die NATO mal aufgelöst und durch ein anderes Bündnissystem abgelöst werden, so Liebich.
Die beiden Redner, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung für diesen Tag eingeladen worden waren, bemühen sich erkennbar um einen vergleichsweise neutralen Ansatz – was in dem antirussisch aufgeladenen Kontext derzeit in Deutschland fast eine Ausnahme ist. Als Analyse bringt die Diskussion jedoch keinen Gewinn. Die Gäste bleiben oberflächlich und können keine Expertise für die ukrainische Spezifik vorweisen, obwohl Alexander Hug als ehemaliger Leiter der OSZE-Beobachtergruppe (er ist Ende 2018 aus seinem Amt ausgeschieden) sehr viel Zeit in Donezk verbracht hat. Ihre Vorschläge sind zu allgemein gehalten. Denn es ist offensichtlich, dass der Konflikt eine politische Lösung braucht, wie sie es auch selbst sagen. Nur: Wer wird wann diese politische Lösung herbeiführen, und vor allem warum und wie? Welche Akteure haben ein Interesse an der Beendigung des Krieges – oder an seinem Schwelbrand? Aber es ist immerhin die einzige Veranstaltung, die in diesen Wochen den nahezu vergessenen Krieg in der Ost-Ukraine thematisiert.
Zum Ende der Veranstaltung wird der Film "The distant barkling of dogs" gezeigt, der das Leben eines 10-jährigen Jungen und seiner Großmutter im frontnahen Gebiet auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium dokumentiert. Der Film wurde auf Festivals mit Preisen ausgezeichnet und durfte sogar am Oskar-Wettbewerb teilnehmen. Die beiden Protagonisten reisen jetzt um die Welt. Würde es ein ebenso guter Dokumentarfilm, auf der anderen Seite im Frontgebiet gedreht, im Westen auch so weit schaffen? Eine rein rhetorische Frage.