Sprache des oppositionellen Dialogs
Im Gebäude des ehemaligen Jerewaner Mergeljan Instituts für wissenschaftliche Forschung fand letztes Jahr das CampCamp 2018-Seminar statt. Zu Sowjetzeiten produzierte das Forschungsinstitut Computer. Heute beherbergt es ein Ausstellungszentrum. Zu den Veranstaltungen des CampCamp 2018 konnte man nur über Listen hineingelangen. Am Empfang erhielten alle Teilnehmer Badges mit zweifarbigen Halsbändern: blau für diejenigen, die kein Problem damit haben, fotografiert zu werden und rot für diejenigen, die dagegen sind.
Der fortschrittliche und aufgeklärte Charakter der "Versammlung" war gut an den Wänden der Toilette zu erkennen, die mit "trendigen" Aufklebern mit der Forderung, "die Geschlechtertoiletten abzuschaffen" beklebt wurden. Die Eröffnungsrede der Organisatoren begann wie folgt:
Es tut uns leid, doch wir werden Russisch sprechen, obwohl das für einige unangenehm sein kann.
Der Vorschlag, Englisch zu sprechen, wurde nicht angenommen: Die Abstimmung zeigte, dass nicht jeder dieser Sprache mächtig war.
Infolgedessen mussten 150 Personen - hauptsächlich aus Russland, Weißrussland, Kasachstan, wichtige Experten für Revolutionen, sowie Aktivisten aus Kirgisistan und der Ukraine – Russisch sprechen. Sie gaben Ratschläge darüber, "wie man in einem Staat lebt, in dem der Putsch bereits stattgefunden hat", und erzählten, dass "die Revolutionäre von gestern nach ihrer Machtübernahme beginnen, ihre Verwandten an die Macht zu bringen". Und das alles auf Russisch.
"Die Eltern als Hauptgegner"
Auf dem Seminar teilten armenische Aktivisten ihre revolutionären Erfahrungen mit dem Publikum. Die Menschenrechtsaktivistin Olga Azatjan gab zu, dass der "Armenische Frühling" nicht spontan war. Die Vorbereitung der Reden begann 2008, unmittelbar nach der Wahl von Sersch Sargsjan zum Präsidenten Armeniens. Sie betonte:
Wir haben das jeden Tag gemacht, wir haben hart gearbeitet und über unsere Fehler nachgedacht.
Während der Präsidentschaft von Sargsjan war es "traurig und uninteressant", sich mit politischem Journalismus in Armenien zu beschäftigen, beschwerte sich Mikael Zoljan, Abgeordneter der armenischen Nationalversammlung vom Block "Mein Schritt" und Experte des Prague Civil Society Centre. Ihm zufolge gab der Triumph der Revolution Impulse für die Entwicklung der Medien.
Die Sprecher des CampCamp-Seminars enthüllten ein universelles Konzept der Verbreitung von Proteststimmungen. Die Hauptaufgabe der Organisatoren von Staatsstreichs bestehe darin, Jugendliche zu Straßendemonstrationen zu locken. Eine solche Empfehlung gab der Chefredakteur der Zeitung Gjumri-Asparez Levon Barsegjan seinem Publikum. Laut dem armenischen Journalisten ist das Geheimnis einer erfolgreichen Revolution ganz einfach: Kinder zum Protest auf die Straße locken, wodurch die Eltern schließlich hineingezogen werden.
Die Hauptgegner der Jugend waren wer? Was denken Sie? – Die Eltern! Und als sie merkten, dass die Kinder nicht zurück kehrten, gingen sie zu ihnen", erinnert sich Barsegjan an die Ereignisse der "Samtenen Revolution" in Armenien im Jahr 2018. "Hilfe kann man auch aus dem Ausland erwarten", so Barsegjan. Laut seinen Aussagen soll die armenische Diaspora in den USA finanzielle Hilfe angeboten haben. Sie überwiesen Gelder auf Bankkonten, die auf Facebook veröffentlicht wurden. Seiner Meinung nach haben die Weißrussen heute die beste Chance, einen Machtwechsel mit der Berücksichtigung der armenischen Erfahrung durchzuführen.
"Seid bereit für die Macht"
Auch die ukrainischen "Kameraden", die von Ende 2013 bis Anfang 2014 am Maidan in Kiew teilnahmen, teilten ihre Erfahrungen über den revolutionären Kampf mit den Anwesenden.
In den ersten Stunden sind rund 2.000 bis 3.000 Menschen vorbeigegangen. Doch über Nacht blieben nur wenige. Ich war einer von ihnen. Damals dachten wir nicht darüber nach, was wir taten, und erwarteten nicht, dass im Land solche Veränderungen eintreten würden. Wir dachten, dass es ein Jahr war, in dem wir versuchen müssten, etwas Wichtiges zu tun. Wir wussten, dass wir etwas Wichtiges tun mussten", sagte Iwan Omeljan, der sich selbst als einen der ersten Maidan-Aktivisten bezeichnet.
Seiner Meinung nach hatten die Ukrainer "seit 2005, seit der ersten Revolution in der Ukraine" und die Russen seit der Bolotnaja im Jahr 2012 Momente, in denen man sich versammeln konnte. Laut Omeljan erstickten diese Bewegungen schließlich, weil sie keinen Anführer hatten.
Der Maidan-Aktivist teilte seinen Eindruck von den "Errungenschaften" der ukrainischen "Revolution der Würde" mit den Seminarteilnehmern:
Im Parlament haben wir jetzt 80 Prozent korrupte Menschen. Wir grüßen und bitten sie, so oder so abzustimmen. Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten, weil wir nicht an der Macht sind.
Während seinem Vortrag "Hoffnung gegen Apathie" sollte das Publikum darauf vorbereitet werden, dass ein Machtwechsel einen "Langstreckenlauf" darstellt. Die Stars des Maidan müssen auch mit einem emotionalen Burnout zurechtkommen, besonders nach mehreren Jahren des Kampfes. Diese persönliche Erfahrung wird für Aktivisten aus Russland und Kasachstan nützlich sein, so Omeljan, da ein Machtwechsel in diesen Ländern lange dauern kann. Er erklärte:
Burnout nach einigen Jahren ist möglich. Alles kann wieder auf die übliche Bahn gelangen und Sie werden wieder ans Auswandern denken. Die Leute um Sie herum werden auch darüber nachdenken, und Sie selber auch. Niemand ist bereit für einen langen Korridor. Niemand ist bereit, lange Marathons zu laufen. Jeder will einen kurzen Lauf. In großen Staaten - wie Russland und Kasachstan – wird es ein sehr langer Weg sein, der vielleicht länger sein wird, als unser ganzes Leben.
Von seinen psychologischen und philosophischen Passagen ging er zur politischen Rhetorik über.
Ihr seid bereits politisch aktiv. Wenn ihr Veränderungen wollt, dann ist das eine Sache. Die Frage ist, wie systematisch man das macht. Hier muss man sich entscheiden", warnte der Maidan-Aktivist.
Als Hauptthese seines Vortrags gab Omeljan an, bereit zu sein, selbst zur Macht zu werden:
Ein sehr wichtiger Punkt. Ich bin sehr daran interessiert, was meine armenischen Kollegen dazu sagen werden. Ihr solltet bereit sein. Es mag euch abenteuerlich erscheinen, aber in fünf bis zehn Jahren könntet ihr möglicherweise schon im Parlament sein.
Mikael Zoljan ergänzte Omeljans Thesen. Während seiner Ansprache erinnerte er sich an den inoffiziellen Slogan des Jerewaner "Zusammenkommens": "Töte den Serzhik in dir!" [Mit dem der ehemalige armenische Premierminister Sersch Sargsjan gemeint war.] Er erklärte weiter:
Sich von der Mentalität und den Praktiken befreien, die es dem System erlauben, über dich zu herrschen. Wenn es dazu kommt, entscheidet jeder selbst, was zu tun ist.... Unsere Anführer der Bewegung sagten: 'Tut, was ihr für richtig haltet. Wir schlagen euch dies hier vor, aber ihr denkt und entscheidet für euch selbst. Wir empfehlen, die Straßen zu blockieren. Es liegt an euch zu entscheiden, welche Straße ihr blockieren möchtet'.
"Wie sollten sich die Aktivisten überhaupt verhalten, die in die Politik wollen? Gibt es eine Art Know-how?" fragte Nastja, eine Seminarteilnehmerin aus Weißrussland, den Seminarleiter.
Wenn ihr für die Pressefreiheit kämpft, bekommt man viel Belastungsmaterial. Ihr müsst darauf vorbereitet sein – schaut euch an, versteht, dass ihr nicht das Recht habt, euch mit irgendwas zu beschmutzen", erklärte Omeljan.
Ein Vertreter aus Kirgisien, der bereits zwei Revolutionen in seinem Land miterlebt hat, erzählte ebenfalls über die Machtübernahme der Aktivisten:
"Es ist falsch anzunehmen, dass sie [die Behörden] schmutzig, und wir [die Zivilgesellschaft] alle rein sind. In Prag fand ein Bürgerforum statt, und die wichtigste Botschaft war, dass Aktivisten der Zivilgesellschaft keine Angst haben sollten, Teil der Machtstrukturen zu werden, da sie bereits Politik machen, wenn sie sich mit dringenden Themen befassen.
"Es ist noch nicht in Mode gegen Putin zu sein."
Im CampCamp sprach man auch über Russland. Zu diesem Thema hielt der Leiter der Sankt Petersburger Bewegung "Wremja" (zu Deutsch: Zeit) Nikolai Artjomenko einen Vortrag.
Er erinnerte zu Beginn seiner Rede an die Proteste in Sankt Petersburg gegen die Rückgabe der Isaakskathedrale an die Russisch-orthodoxe Kirche.
"Zum Beispiel liegt unser Aktivist im Talar auf Dollarsäcken und ruft: 'Ich will noch mehr' – eine Parodie auf viele Mitglieder der Russisch-orthodoxen Kirche. Wir führten spontane Referenden durch, standen auf den Straßen der Stadt und baten die Bürger, zu wählen, wem der Dom gehören soll. Letztendlich, sechs Monate später, entwickelten wir die Kampagne 'Blauer Ring': sich um die Kathedrale herumzustellen, um zu zeigen, dass wir viele sind", sagte Artjomenko.
Die Tatsache, dass "der Gouverneur zugestimmt hat, die Frage einzufrieren", sei allein den Aktivisten zu verdanken. "Solche Geschichten sollten uns motivieren", betonte er. Der Redner wies auch auf die Probleme hin, mit denen die Oppositionsaktivisten heute konfrontiert seien:
Die Behörden begannen, ernsthaft die Schrauben anzuziehen. Die Geldstrafen könnten größer werden", und als Folge dessen "begannen die Aktivisten Angst zu haben.
Der Ausweg aus dieser Situation bestehe laut Artjomenko darin, "weniger traumatische Kampagnen wie die Aktion "18+" in ganz Russland durchzuführen". "18 Jahre an der Macht, wie lange denn noch?" fragte er. Artjomenko wurde die Frage nach der sogenannten feudalen Fragmentierung von NGOs und der Notwendigkeit, alle oppositionellen Organisationen zu vereinen, gestellt. Er antwortete:
Ich verstehe den Sinn nicht. In Russland gibt es viele NGOs. Es gibt sehr kleine, aber auch große wie 'Memorial'. Ich sehe keinen Sinn darin, sich zu vereinen – je mehr Bewegungen, desto besser. Vereinen sollte man sich in Bezug auf eine konkrete Aufgabe. Sei es die Isaakskathedrale, oder die Präsidentschaftswahlen. Ich war Sobtschaks Stabschef in Sankt Petersburg, und wir schlugen vor, uns um Sobtschak zu vereinen, als Nawalny nicht zugelassen wurde.
Während des Spiels "Wie man das Regime mit Hilfe des Regimes stürzt", das zeigen sollte, dass oppositionelle Aktivisten sich regierungsfreundlichen Jugendorganisationen anschließen sollten, stellte eine Aktivistin aus Kasachstan eine Frage zu Russland: "Was sollte in Russland passieren, damit sie anfangen zu denken, dass es ein Monster ist, dass es nicht gut ist?"
"Wir haben auch regierungsfreundliche Bewegungen. Sie können zur Jungen Garde von Einiges Russland gehen", entgegnete Artjomenko, ohne eine direkte Antwort zu geben. Weiter fragte er:
Warum ist es Nawalny gelungen? […] Er hat den politischen Prozess in Mode gebracht, sich mit modischen Menschen umgeben, die alles schön machen - sie sind interessant anzusehen, es ist interessant ihnen zuzuhören. Auch in Armenien wurde es zur Mode, gegen Sargsjan zu kämpfen. Bei uns ist es noch nicht in Mode, gegen Putin zu kämpfen, doch es ist in Mode, darüber nachzudenken.
Inspiriert vom Verlauf seiner eigenen Gedanken, beschloss er, in die Zukunft zu schauen: "Die Annahme, dass es abgesehen von Putin ein System gibt, ist falsch. Wenn es keinen Putin gibt, wird es ein anderes System geben. Wäre Medwedew an die Macht gekommen, wäre das System anders und besser gewesen. Ich sage jetzt etwas aufrührerisches, zitiert mich bitte nicht: Selbst wenn die Kommunisten an die Macht kommen, steht Russland vor einem positiven Wandel".
Dann zog Artjomenko eine unerwartet alarmierende Schlussfolgerung: "Alles entwickelt sich in die Richtung, dass in sechs Monaten das Internet verboten wird. Wir haben keine Möglichkeiten. Ein Geschäft kann geschlossen werden."
"Heute retten wir die Welt"
Das CampCamp-Seminar ist Teil der systematischen Arbeit des Prague Civil Society Centre bei der Ausbildung eines neuen Pools von "Aktivisten". Die Organisation sah ein ziemlich strenges Auswahlsystem für die Teilnehmer der Veranstaltung vor: das Seminar in Jerewan konnte man nur nach Bestehen einer Art Loyalitätstest besuchen. Jeder zugelassene "Glückspilz" erhielt den Flug nach Jerewan bezahlt. Die meisten der Jugendlichen, die auf diese Weise ein Ticket in die armenische Hauptstadt erworben haben, sind sich sicher, dass sie "die Welt retten".
Einige der Teilnehmer der "Zusammenkunft" leben jedoch nicht mehr in ihrem Heimatland und ziehen es vor, für die Rechte ihrer Mitbürger auf Distanz zu kämpfen. Zum Beispiel bezeichnet sich ein gewisser Anatoli selbst als LGBT-Aktivist in Kasachstan. Zuvor wurde er bekannt, indem er Broschüren und Aufkleber in öffentlichen Toiletten über die Bedeutung von Unisex-Toiletten verbreitete. Nach den Standorten zu urteilen, die er in den sozialen Netzwerken angibt, verbringen er und seine Mitstreiter für Menschenrechte nun den größten Teil ihrer Zeit in Prag.
"Heute retten wir die Welt. Leben können wir irgendwann später", bemerkt Anatoli im Geiste der Hollywood-Helden.
Ein paar Informationen über die Organisatoren von CampCamp
Die Menschen, die diese Veranstaltung in Jerewan organisierten, sind nicht neu in ihrem Geschäft. Die Konfrontation mit dem "Regime" und die Kundgebungen der "aktiven Bürger" sind für sie zu einem echten Beruf geworden und bringen ihnen dank des Prague Civil Society Centre und des US-Kongresses ein gutes Einkommen. Die Prager NGO erhält gemäß dem US-Gesetz "H.R.3364 - Countering America's Adversaries Through Sanctions Act" Geldmittel aus den USA. Artikel 254 des Dokuments sieht 250.000 US-Dollar für die Jahre 2018 und 2019 für die "Bekämpfung des russischen Einflusses" vor. Dieser soll sich nach Ansicht der US-Politiker auf die Länder der NATO und ihre potenziellen Mitglieder - Georgien, Moldawien, Kosovo, Serbien und die Ukraine erstrecken.
Der Exekutivdirektor des Prague Civil Society Centre Rostislav Valvoda versuchte bereits im Jahr 2009, eine ähnliche Veranstaltung in Russland zu organisieren. Damals hieß das Seminar "Methoden der Durchführung einer öffentlichen Kampagne – erfolgreiche Beispiele". Aufgrund von Verstößen gegen die Migrationsgesetzgebung wurde Valvoda jedoch festgenommen und musste das Land verlassen.
Bei der Jerewaner "Versammlung" mischte sich Rostislav nicht in den Prozess ein und hielt sich vom Mikrofon fern. Er beobachtete bloß, wie seine Schützlinge die Veranstaltung organisierten, Diskussionen durchführten und wie sie vom Publikum aufgenommen wurde.
Der Rest der "Manager" des Seminars war traditionell: Die Mehrheit der Aktivisten kam aus den GUS-Staaten und stellte Personen dar, die ihre Karriere als Anti-Regimekämpfer auf westlichen Zuschüssen aufbauen. Jewgenija Plachina, eine Journalistin aus Kasachstan, erkannte bereits im Jahr 2014, dass ein Protest modisch sein muss. Sie ging zu Protesten auf dem Platz der Stadt Alma-Ata mit einem Spitzenhöschen statt einer Flagge in der Hand. Auf diese Weise wollte die Journalistin gegen die Abwertung des Tenge und ein mögliches Verbot des Verkaufs von Spitzenwäsche in der Zollunion protestieren. Dieses "Verbot" entpuppte sich später jedoch als Fake. Heute lebt sie wie der oben genannte LGBT-Aktivist Anatoli in Prag.