Der französische Philosoph und Autor Alain Finkielkraut wurde am Samstag am Rande einer Gelbwesten-Demonstration in Paris antisemitisch beleidigt und angegriffen. Demonstranten hatten ihn als "dreckigen Zionisten" beschimpft. Deutsche Medien nahmen diesen Vorfall zum Anlass, die Gelbwesten einmal mehr in die rechte Ecke zu stellen und als "endgültig diskreditiert" zu verwerfen.
Finkielkraut zeichnet in einem Interview mit der Welt ein anderes und differenzierteres Bild. Im vergangenen Jahr hatte Finkielkraut die Proteste als "würdevollen Ausdruck von Leid und Verzweiflung" verteidigt und war dafür selbst in die rechte Ecke gestellt worden. Im Welt-Interview zeigt er sich den Gelbwesten gegenüber ambivalent.
Einerseits kritisiert er, dass die Bewegung durch ihren medialen Erfolg korrumpiert worden sein. Die Arroganz habe das Spielfeld gewechselt. Es sei unverzeihlich, dass die Gelbwesten Politiker auf einmal "wie Nichtsnutze" behandeln. Andererseits glaube er weiterhin, dass in der Bewegung Gutes stecke. Sie habe das "abgehängte Frankreich" sichtbar gemacht und zum Ausdruck gebracht, "dass die Missachtung durch die Politiker und die Medien unerträglich ist".
Vor dem pauschalen Vorwurf des Antisemitismus nimmt Finkielkraut die Gelbwesten in Schutz. Derjenige, der ihn beleidigt habe, sei ein Salafist gewesen. Überhaupt wäre der Antisemitismus in Europa ein Randproblem, "wenn unsere Gesellschaften nicht gegen ihren Willen in multikulturelle Gesellschaften umgeformt worden wären".
Die Proteste und der Populismus seien eine "pathologische Reaktion" auf das Phänomen der demografischen Veränderung:
Europa wollte das nicht. Die Regierungen haben nicht ernst genommen, was die Gesellschaften dachten und empfanden, und müssen das heute teuer bezahlen. Ohne Angela Merkels 'Wir schaffen das!' und die Million Einwanderer, die Deutschland 2015 aufgenommen hat, hätte es keinen Brexit gegeben.
Auf die Frage, was die Kanzlerin damals hätte machen sollen, sagt Finkielkraut:
Ich weiß es nicht. Aber 'Wir schaffen das!' war einfach Unsinn. Sie sehen es ja selbst: Ihr schafft es nicht. Dieser Mix aus extremem Moralismus und wirtschaftlichen Interessen war abstoßend. Die Deutschen wollten sich damit freikaufen und endlich ein moralisch tadelloses Volk werden.
Dies geschehe auf Kosten der Juden, die die ersten Opfer seien, wenn mehr Einwanderer hereingelassen würden. Finkielkraut kritisiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich den deutschen Philosophen Jürgen Habermas:
Europa ist auch dazu da, die Europäer zu schützen. Wenn Europa nur noch eine Anhäufung von Regeln und Prozeduren ist, dann wird es ein leeres Gebilde, genau das, was Jürgen Habermas vorschwebt. Mit Herrn Habermas werden wir nicht Europa retten.
Die radikale und die wohlwollende, politisch korrekte Linke wolle nicht sehen, von welcher Seite die Bedrohung für die Juden kommt. Moderner Antisemitismus sei deshalb eine Spielart des Antirassismus. Frankreich und Europa dürften nicht länger die Augen verschließen:
Denn wir werden nicht aus dem Schlamassel rauskommen, indem wir uns in ein Europa der Progressiven und eins der Nationalisten spalten, wie Emmanuel Macron das derzeit versucht.
Europa sei nicht dazu berufen, eine multikulturelle Gesellschaft zu werden. Einwanderung müsse restriktiv gehandhabt werden, weil die Eingliederung von Einwanderern immer schwieriger werde. Am Ende des Gesprächs vergleicht Finkielkraut die Gegenwart mit der Nachkriegszeit, als seine Familie aus Polen nach Frankreich kam. Er sei noch ein Beispiel für gelungene Integration:
Aber ich bin noch in den Genuss einer funktionierenden Schule der Republik gekommen. Seither ist die Schule in Frankreich zusammengebrochen. Als meine Familie ankam, gab es noch eine Mehrheitskultur, an die sich jeder anpassen wollte. Das ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr.
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