Das höchste Gesetzeswerk der spanischen Rechtsordnung begeht seinen 40. Geburtstag mit ernsten Problemen: die Krise der territorialen Verfassung infolge der katalanischen Frage, der Ansehensverlust der spanischen Krone an der Spitze der nationalen Ämterhirarchie und der Einzug der extremen Rechten in die politischen Institutionen.
Die alljährlichen Feierlichkeiten zum 6. Dezember erinnern an die Ratifizierung der "Verfassung von 1978" durch das spanische Volk, und damit an das tatsächliche Ende der fast vier Jahrzehnte andauernden Franco-Diktatur. Obwohl sie seinerzeit bei einer Beteiligung von 58,97 Prozent der Abstimmungsberechtigten mit 87,78 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde, ist der Gesundheitszustand der spanischen Verfassung zu ihrem 40. Geburtstag nicht der beste.
Verschiedene politische Parteien und soziale Gruppen fordern Veränderungen, einige kleinere und andere substanzielle. Andere Parteien und Teile der Gesellschaft erklären den Verfassungstext für sakrosankt und verteidigen ihn um jeden Preis.
Das Auftauchen der extremen Rechten
Der massive Eintritt der extremen Rechten in die politische Arena und die spanischen Institutionen nach der jüngsten Regionalwahl in Andalusien stellt die spanische Verfassung auf eine ernste Probe. Die ultrarechte Partei Vox zieht nach ihrem unerwarteten Wahlerfolg in das Parlament der bevölkerungsreichsten spanischen Region ein. Mehre Maßnahmen ihres politischen Programms laufen dem Inhalt der Verfassung direkt zuwider, etwa die Abschaffung der autonomen Regionen Spaniens (wie beispielsweise Andalusien).
Weitere politische Forderungen von Vox sind das Verbot der Abtreibung, die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe sowie des Gesetzes gegen sexuelle Gewalt. Neben anderen sind es vor allem diese umstrittenen Forderungen, welche die Ablehnung breiter Bevölkerungsschichten provozieren. Eine Online-Petition zum Verbot der Partei verzeichnet bereits fast 50.000 Unterschriften.
Die extreme Rechte ist damit das erste Mal seit 1982 mit einer eigenen Partei in einem spanischen Parlament vertreten, statt wie bisher durch die traditionelle rechte Volkspartei (Partido Popular) in die spanische Parteienlandschaft eingebunden zu sein.
Unabhängigkeit vs. nationale Einheit
Eine der offenen Flanken der spanischen Verfassung ist die territoriale Organisation des spanischen Gesamtstaates. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung stellt den Verfassungsgrundsatz der "unauflöslichen Einheit der spanischen Nation" unmittelbar infrage. Dieser Grundsatz bildet die Grundlage für die Ablehnung jeglicher Abstimmungen über die Selbstbestimmung einzelner spanischer Regionen und "nationaler Identitäten", wie insbesondere Katalonien, die andernfalls die Tür zur Unabhängigkeit eines Teils des Landes öffnen könnten.
Kritik an dieser Ablehnung als "verfassungfeindlich" kommt hingegen nicht nur aus Katalonien. Auch andere Teile der spanischen Gesellschaft befürworten eine Neuordnung und Föderalisierung der territorialen Verfasstheit des spanischen Staates, wie die linke Partei Podemos unter ihrem Führer Pablo Iglesias.
Die Gegenströmung der politischen Rechten setzt dagegen auf eine Rezentralisierung des Staates. Spanien ist seit 1978 in 17 autonomen Regionen (vergleichbar den deutschen Bundesländern) organisiert, mit jeweils eigenen Regierungen und Parlamenten und exklusiven Zuständigkeiten, etwa für das Bildungs- und Gesundheitswesen. Vox fordert unumwunden die Beseitigung dieser Autonomien. Andere rechte Parteien, wie die Volkspartei und die Partei der Bürger (Ciudadanos), wollen, dass einige der derzeitigen regionalen Zuständigkeiten wieder in die Kompetenzen des Zentralsstaates übergehen.
Ansehensverlust der spanischen Monarchie
Von allen Institutionen der spanischen Verfassung ist womöglich die Monarchie am meisten von den institutionellen Problemen berührt. Der Ansehensverlust begann bereits in den letzten Jahren der Regentschaft von Juan Carlos I., dem Vater des jetzigen Königs Felipe VI. Da war zuerst der Korruptionsfall Nóos, für den sein Schwiegersohn schließlich ins Gefängnis wanderte. Dann kamen der Skandal um seine "Freundin" Corinna mit der Polemik über ihre gemeinsame Elefantenjagd in Botswana – bei der sich Juan Carlos I. die Hüfte brach – und die ständigen Gerüchte um ihre Rolle als "Kommissionärin" bei der Vermittlung von Verträgen für spanische Unternehmen.
All dies führte zur Abdankung von Juan Carlos I. als König, in der Hoffnung, dass eine unbelastete Figur wie die seines Sohnes Felipe VI. das Ansehen und die Institution der Krone wiederherstellen bzw. bewahren würde. Diese Hoffnung hat sich nicht wirklich erfüllt. Heftig kritisiert wurde insbesondere das Auftreten von König Felipe VI., als er am 3. Oktober 2017 eine Fernsehansprache an die Nation zwei Tage nach dem katalanischen Referendum hielt, in der er dieses für illegal erklärte.
Doch der Ursprung der Monarchie in Spanien selbst wird grundsätzlich infrage gestellt. Juan Carlos I. wurde vom Diktator Franco höchstpersönlich als sein Nachfolger an der Spitze des spanischen Staates bestimmt. Dessen Proklamation zum Staatsoberhaupt fand am 22. November 1975 statt, zwei Tage nach dem Tod des Diktators und drei Jahre vor der Volksabstimmung über die Verfassung.
Auch die Aufnahme der Monarchie in die spanische Verfassung war keinesfalls unumstritten. Adolfo Suárez, der zur Zeit der Volksabstimmung über die Verfassung von 1978 amtierende Ministerpräsident, erklärte 1995 gegenüber der Journalistin Victoria Prego, dass "die Mehrheit ausländischer Staats- und Regierungschefs" von ihm eine "Volksabstimmung zur Frage Monarchie oder Republik" verlangten. Und er gab zu, dass "Umfragen gemacht wurden und wir verloren (...)". Daher entschieden sie schließlich, die Monarchie in den Verfassungstext aufzunehmen, über den in seiner Gesamtheit abgestimmt werden musste. Mit diesem Vorgehen hatte man den Spaniern die Möglichkeit genommen, tatsächlich zwischen Monarchie und Republik zu wählen.
Ein mittlerweile überholter Text
Zwischen dem Spanien der Verfassung von 1978 und dem von heute liegen Welten. Spanien war damals kein Mitglied der Europäischen Union bzw. ihrer Vorläuferorganisation und zählte für die Weltbank zu den unterentwickelten Ländern. Die Spanier zahlten in Peseten, ihrer eigenen Währung, die sie bei Wirtschaftskrisen abwerten konnten. Verhütungsmittel wurden legalisiert. Und Ehebruch galt nicht mehr als Verbrechen, womit die Grundlage für die gesetzliche Scheidung gelegt wurde, die schließlich 1981 eingeführt wurde.
Der Entwicklung und Modernisierung der spanischen Gesellschaft haben dazu geführt, dass viele Teile des Verfassungstextes mittlerweile überholt sind:
- Die in der Verfassung genannten Ehrengerichte für Offiziere des Militärs wurden zwischenzeitlich durch ein ordentliches Gesetz abgeschafft.
- Die allgemeine Wehrpflicht hat Verfassungsrang, existiert jedoch seit 1999 in Spanien nicht mehr.
- Die verfassungsmäßige Nomenklatur bezüglich körperlicher Einschränkungen als "körperlich, sensorisch oder psychisch behindert" ist aus dem modernen Sprachgebrauch verschwunden.
- Die Katholische Kirche wird ausdrücklich in der Verfassung genannt, obwohl in dieser zugleich bestimmt wird, dass es "keine Staatsreligion" gibt.
- Und einer der umstrittensten Widersprüche betrifft die Ungleichheit zwischen Mann und Frau in der Thronfolge. Trotz der verfassungsmäßigen Bestimmung der Gleichheit von Mann und Frau akzeptiert und legalisiert die Verfassung im Falle der Institution der Monarchie die Diskriminierung der Frau.
Braucht die Verfassung eine Modernisierung?
In der Volkspartei von Pablo Casado räumt man zwar ein, dass kleine Änderungen an der Verfassung nötig wären – doch nicht in solch riskanten Zeiten mit der weiterhin offenen katalanischen Frage.
Auch die Partei Ciudadanos fordert kleine Retuschen, etwa die Einschränkung der parlamentarischen Immunität für die Abgeordneten.
Progressive Parteien sind in dieser Hinsicht ehrgeiziger und verlangen größere Veränderungen. So wie im Falle der Partei Podemos, die für die Abschaffung der Monarchie und die Durchführung eines dafür erforderlichen Referendums eintritt.
Auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez von der Sozialistischen Partei (PSOE) befürwortet einige weitreichendere Veränderungen. Gleichwohl weiß er, dass in der verbleibenden Legislaturperiode dafür keine Zeit bleibt.
Javier Megino, Vizepräsident des Verbandes "Spanien und die Katalanen", sagte, dass, wenn eine Sache in diesen 40 Jahren des Bestehens der spanischen Verfassung funktioniert hätte, es dann die Monarchie gewesen sei.
Anna Arqué i Solsona, Sprecherin der Internationalen Kommission der Europäischen Bürger (ICEC), betonte demgegenüber, dass die spanische Verfassung und die Monarchie vom Diktator Francisco Franco bestimmt worden waren.
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