von Wladislaw Sankin
Die Festsetzung der ukrainischen Kriegsboote nach ihrer Grenzverletzung in der Straße von Kertsch und die darauffolgende Verhängung des Kriegsrechts in großen Teilen der Ukraine wirbelten die Planung zur großen Konferenz zum 5. Jahrestag von Maidan in Kiew auseinander. Ein Teil der geladenen Gäste der Heinrich-Böll-Stiftung blieb in Kiew, die Themenschwerpunkte wurden geändert. Man war beeindruckt von den jüngsten Ereignissen, zu denen auch die mehrstündige Debatte um die Abstimmung über das Kriegsrecht in der Werchowna Rada am Vortag gehörte. Diese war "die Sternstunde des ukrainischen Parlamentarismus", lobte der deutsche Caritas-Vertreter Andrej Waskowycz als Podiumsgast.
Ein Mann, der am Tag davor noch am Abgeordneten-Pult bei diesem Geschichtsereignis mitwirkte, war in der Berliner Runde auch zugegen – Mustafa Najem. Er ist seit Oktober 2014 Mitglied des ukrainischen Parlaments. Er hat den 150 Konferenzteilnehmern dabei zugesichert, dass das auf 10 Regionen beschränkte, zunächst 30-tägige Kriegsrecht keine Beeinträchtigung der bevorstehenden Wahlen oder Einschränkungen der zivilen Freiheiten nach sich ziehen würde.
Seine Einladung galt dem eigentlichen Anlass, der Konferenz "Maidan: Die Ukraine und Europa fünf Jahre danach". Der Aufruf des damaligen Investigativ-Journalisten in Facebook und Twitter, am 21. November auf die Straße zu gehen und für die EU-Zukunft der Ukraine zu demonstrieren, gilt als einer der Auslöser der dramatischen Ereignisse im Zentrum von Kiew. Diese erstreckten sich ab dem Tag genau über drei Monate bis zur Machtübernahme durch die Protestler.
Doch in Berlin trat der gebürtige Afghane als gewiefter Politiker auf, der im guten Englisch dazu aufrief, die "roten Linien" für Putin viel entschiedener als bis jetzt zu zeichnen. Das Kriegsrecht sei eine solche vonseiten der Ukraine, nachdem der russische Sicherheitsdienst FSB die ukrainischen Kriegsboote im Schwarzen Meer "angegriffen" habe. Aber er warte auf lautere Stimmen seiner westlichen Partner "an Mister Putin". Tun sie das nicht, könne er sich vorstellen, dass sie auch dann nur "Besorgnis“ übrig hätten, sollte Russland eines Tages beispielsweise Weißrussland annektieren.
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Das Thema Weißrussland kam dabei nicht von ungefähr. Der andere Podiumsgast, der Osteuropa-Experte Arkady Ostrovsky, der zuvor für namhafte englische Medien schrieb, hielt es für möglich, dass Russland durch die Einnahme Weißrusslands die Landverbindung der NATO zu den baltischen Staaten kappen würde. Davor sei aber eine Blockade des ukrainischen Schwarzmeerhafens Odessa wahrscheinlicher.
Russlands Kalkül sei, mit der jüngsten Aktion in russischen Schwarzmeergewässern den Westen – die EU und vor allem Deutschland – zu testen. Ein weiteres militärisches Abenteuer stehe für Kreml auf dem Plan, denn so lasse sich die Bevölkerung von der miserablen wirtschaftlichen Entwicklung – der schwersten Rezession seit dem Kriegsende, ablenken.
Als Ostrovsky das sagte, nickte Marieluise Beck, die langjährige grüne Osteuropapolitikerin und jetzt ihres Zeichens politische "Lobbystin", zustimmend. Der Westen unterschätze Putin sehr, sagte sie in ihrem Beitrag. Putins Ziel sei es, so wie sie ihn seit Jahren erlebe, "den Westen alt aussehen zu lassen, ihn zu demütigen". Deswegen sei auch der Einmarsch im Baltikum ein durchaus realistisches Szenario, so Beck. Denn, die NATO könne in Wirklichkeit die baltischen Staaten im Ernstfall nicht verteidigen. Die Russische Führung sei zu solchen Handlungen fähig, weil
es ein aggressives, mafiöses und mit jeder Kaltblütigkeit ausgestattetes, zynisches Regime ist.
Das deutsche Medienecho auf den Zwischenfall von Kertsch sei für Beck zu zurückhaltend. Sie mahnte auch Angela Merkel zu "deutlichen Worten". Die Ex-Politikerin fühle sich in der Opposition zum jetzigen Russland-Kurs der Regierung, diese würde nun vielmehr im Duktus von Dietmar Bartsch sprechen. Seine Einschätzung der Lage sei nun in der deutschen Öffentlichkeit "prominent". Gemeint war dabei der Auftritt des Linken-Politikers im ARD-Morgenmagazin am 27. November. Nachdem Wladimir Putin und Angela Merkel vereinbart hatten, die Situation im Schwarzen Meer genau "zu analysieren", sagte er zustimmend zu diesen Bemühungen: "Nun gibt es eine Chance für Diplomatie." Davor weigerte er sich, im ARD-Gespräch die Schuld an dem Zwischenfall nur Russland zuzuschieben. Es sei jetzt wichtig einzuschätzen, was genau passiert sei und mit beiden Seiten im engen Kontakt zu bleiben.
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