von Hasan Posdnjakow
Yanis Varoufakis: Den einen gilt er als roter Dämon, der alle Anstandsregeln des EU-Establishments respektlos brach, den anderen als tragischer Held, der zum Opfer der Machenschaften der EU-"Elite" wurde und den letztendlich seine engsten Vertrauten verrieten. Mit seinem Buch "Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment" offenbart er die schmutzige Wäsche des innersten Machtzirkels der Eurogarchie. Und was für einen Schmutz er offenbart! Selbst für politisch Bewusste, die sich im Klaren sind über das Demokratiedefizit und die anderen strukturellen Probleme der EU, dürfte das Ausmaß der politischen Verdorbenheit der EU-Vertreter erschreckend sein. Kein Trick ist ihnen zu billig, kein Mittel zu schändlich, um ihre Agenda durchzusetzen: Das ist das Bild der hochwürdigen Damen und Herren in Brüssel und in den Hauptstädten der mächtigen EU-Staaten, den Varoufakis' Bericht ergibt, nachdem er ihnen den Mantel der Unschuld, hinter dem sie sich verstecken, entrissen hat.
Der ehemalige griechische Finanzminister und Wirtschaftswissenschaftler formuliert es zum Ende seiner Anklageschrift gegen das EU-Establishment folgendermaßen:
Als Europas Illusionen nach dem Finanzcrash und der anschließenden Eurokrise in Flammen aufgingen, verlor Europas Machtelite alle Zurückhaltung." Er konkretisiert: Das Establishment "wendet nackte Gewalt an, um politische Maßnahmen durchzusetzen, die nicht einmal Ronald Reagan und Margaret Thatcher unterstützt hätten".
Mittlerweile sei die Führungsschicht der EU zum Gegenteil ihrer Selbstinszenierung verkommen: Sie agiere tatsächlich höchst illiberal. Varoufakis' Chronik der griechischen Krise offenbart die alte Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft. Wir können in ihr verfolgen, wie die bürgerliche Demokratie, weil sie eine bürgerliche ist und daher auf der Grundlage kapitalistischer Verhältnisse steht, zugleich ihr Gegenteil in sich trägt, nämlich eine Diktatur der Wirtschafts- und Staatselite. Dieser Widerspruch zeigt sich besonders deutlich in Phasen allgemeiner wirtschaftlicher und politischer Krisen, wie eben in Griechenland nach 2008.
Varoufakis zufolge wurde Griechenland, das er in den Jahren der Krise sarkastisch "Bailoutistan" nannte, "niemals gerettet". Im Jahr 2010 sei der hellenische Staat praktisch bankrott gegangen. Die als Rettungsaktion getarnten Maßnahmen der Eurozone seien eine Verschleierung dieser Tatsache gewesen:
Wie verschleiert man einen Bankrott? Indem man dem schlechten Geld gutes Geld hinterherwirft. Und wer finanzierte das Verschleierungsmanöver? Ganz gewöhnliche Menschen…"
Warum das ganze Theater trotzdem keine Rettungsaktion gewesen sei, erklärt der griechische Wirtschaftswissenschaftler so:
Jemandem, der bankrott ist, neue Kredite aufzuzwingen unter der Bedingung, dass er sein Einkommen reduziert, ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung. […] Mit ihren 'Rettungs'-krediten und der Troika ihrer Schergen, die voller Begeisterung Einkommen vernichteten, verwandelten die EU und der IWF Griechenland de facto in die moderne Version eines Schuldgefängnisses aus einem Roman von Charles Dickens, und dann warfen sie den Schlüssel weg."
Varoufakis erklärt, dass das wahre Objekt der Rettung nicht der griechische Staat, sondern die französischen und deutschen Banken gewesen seien, die eine enorme Anzahl griechischer Staatsanleihen gekauft hatten und die wegen eines möglichen griechischen Bankrotts ebenfalls vor dem Abgrund standen. Es wäre allerdings damals sehr schwer gewesen, so Varoufakis, eine erneute Bankenrettung nach den wiederholten Rettungen im Zuge der Bankenkrise von 2008/2009 politisch gegenüber dem Bundestag und der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Stattdessen hätte die Führungsspitze der Eurozone die diesmalige Rettung als einen "Akt der Solidarität mit den verschwenderischen und faulen Griechen" (Varoufakis) maskiert.
Varoufakis zufolge seien später die großen Mächte innerhalb der Eurozone, Frankreich und Deutschland, an einer realistischen Einigung mit Griechenland zu einem langfristigen Schuldentilgungsplan nicht interessiert gewesen, da der Großteil der Schulden von anderen Eurozonen-Staaten übernommen wurde. Seinen Zahlen zufolge übernahmen die beiden Schwergewichte von den Milliarden an Euro, die an Griechenland im Zuge der verkappten Bankenrettung gingen (um alsbald an die Gläubiger ausgezahlt zu werden), zusammen nur 47 Prozent. Die restlichen 53 Prozent wurden von den anderen Eurozonen-Staaten gestemmt – einschließlich von Staaten wie Portugal oder die Slowakei, die mindestens so arm wie oder sogar noch ärmer als Griechenland waren! Dazu kam, dass auch der IWF einen Teil übernahm, also die Last auch auf Staaten außerhalb der Eurozone verteilt wurde.
Führende Vertreter der Troika, berichtet Varoufakis, gaben ihm gegenüber zu, dass ihre Strategie, Geld aus Griechenland einzutreiben, nicht funktionieren würde. So erklärte die IWF-Präsidentin Christine Lagarde gegenüber Varoufakis:
Die Ziele, auf denen sie beharren, können nicht funktionieren. Aber du musst verstehen, dass sie schon zu viel in dieses Programm investiert haben. Sie können nicht mehr zurück."
Den haarsträubend widersinnigen Weg, den die Eurostaaten nach der Krise einschlugen, erklärt Varoufakis wie folgt: Im Gegensatz etwa zu den Vereinigten Staaten oder Japan hätten die Staaten der Eurozone nicht die Möglichkeit gehabt, die schlechten Schulden ihrer Banken in die Bücher ihrer Zentralbank auszulagern, da sie über keine eigene Zentralbank mehr verfügten und es der Europäischen Zentralbank verboten war, sich an solchen Geschäften zu beteiligen. Darauf hätten die Deutschen bei der Einführung des Euros bestanden, als Bedingung dafür, dass der "Pöbel" Europas sich an ihrer D-Mark in Form des Euros beteiligen durfte.
Irren ist menschlich, […] aber für spektakuläre Fehler mit unfassbaren menschlichen Kosten brauchten wir anscheinend erst Europas größtes wirtschaftliches Projekt, den Euro", fasst Varoufakis diese tragikomische Episode der europäischen Finanzgeschichte zusammen.
Die Folgen der merkwürdigen Rettungskonstruktion für die Verhandlungsstrategie der Eurzonen-Bevollmächtigten schildert der ehemalige griechische Finanzminister so:
Die Gläubiger wollten ihr Geld nicht zurück. Für sie war ihre Autorität wichtig […]."
In privaten Gesprächen mit Varoufakis signalisieren mehrere hochrangige Vertreter der Troika nach dem Amtsantritt der Syriza-Regierung ihre grundsätzliche Zustimmung zu seinem (sehr moderaten) Programm (etwa Pierre Moscovici, EU-Kommissar für Wirtschaft und Finanzen sowie einige IWF-Vertreter). Auch der französische Finanzminister stimmt Varoufakis zu, aber in der Öffentlichkeit spricht Paris dieselbe Sprache wie Berlin. Der französische Finanzminister muss gegenüber Varoufakis eingestehen: "Frankreich ist nicht, was es einst war."
Varoufakis schildert ein weiteres Beispiel für den unheimlichen Einfluss Berlins innerhalb der EU: Macron (damals Wirtschaftsminister) sagte bei einem Gespräch, der Troika-Plan für Griechenland sei eine moderne Version des Versailler Vertrages. Merkel habe das überhört und den damaligen französischen Präsidenten Hollande angewiesen, Macron aus den Griechenland-Verhandlungen herauszuhalten, was auch geschah.
Doch die deutsche Dominanz in Juropp stoßt nicht nur auf Gegenliebe: Auf einer IWF-Tagung im April 2015 erklärte Schäuble gegenüber dem französischen Finanzminister, dass er die Troika auch in Paris sehen will, worauf der französische Finanzminister ihn anschrie, so Varoufakis. Die eigentliche Aufgabe des radikalen Sparkurses und der Troika sei es, den französischen Haushalt zu kontrollieren. EU-Kommissar Moscovici gestand bei einer anderen Gelegenheit gegenüber Varoufakis:
Deutschland ist ein Problem, und zwar nicht nur für euch."
Yanis Varoufakis: Die Ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, Verlag Antje Kunstmann, ISBN 978-3-95614-202-4.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.