Ein bedeutender Teil der Nachkriegsidentität Deutschlands setzt darauf, keine eigenen Atomwaffen zu besitzen. Gemäß des internationalen Atomwaffensperrvertrags gibt es nur fünf legitime Atommächte: die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich.
Im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO beherbergt Deutschland jedoch mehrere US-Atomsprengköpfe und betreibt mehrere atomwaffenfähige Tornado-Kampfflugzeuge.
Trump "verschleudert das Ansehen der USA als Weltordnungsmacht"
Zunehmend offen debattiert die Politelite in Deutschland die Zukunft der nuklearen Aufrüstung. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der einflussreichen Denkfabrik Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) konzentrieren sich mehrere Autoren auf die Frage nach der Zukunft des "europäischen Nuklearschirms", bieten jedoch veränderte Gegebenheiten Anlass zu Debatten über vermeintlich neue militärische Notwendigkeiten. Zum einen sei mit der Präsidentschaft Donald Trumps der nukleare Schutzschild der Vereinigten Staaten nicht mehr zuverlässig, dann wieder dient die Stationierung russischer Iskander-Raketen in Kaliningrad als Grund für die Frage nach der nuklearen Zukunft.
Auf die Käseglocke, die von der USA seit über einem halben Jahrhundert über uns ausgebreitet war, können wir nicht ewig vertrauen", warnte Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz bereits vor einiger Zeit.
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Die "europäische Käseglocke" unter französischer Ägide, welche aktuell Thema in der DGAP-Zeitschrift "Internationale Politik" ist, erscheint geradezu moderat im Vergleich zu der Forderung nach der "deutschen Bombe", welche unlängst offen und medienwirksam dargelegt wurde.
So boten im vergangenen Sommer die Welt und Cicero dem Professor Christian Hacke jeweils eine über 12.000 Zeichen umfassende Plattform für sein Plädoyer zugunsten einer Atommacht Deutschland.
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Einleitend erfuhr der Leser bereits viel über die Weltsicht des Politikwissenschaftlers, der auch Mitglied einflussreicher Denkfabriken ist, darunter die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und das International Institute for Strategic Studies (IISS). Demnach habe US-Präsident Donald Trump auf seiner Europareise "die westliche und insbesondere die amerikanische Diplomatie auf den Kopf gestellt".
Gegenüber den Verbündeten gerierte er sich wie ein Schulmeister; aber gegenüber dem autoritären Wladimir Putin wirkte er wie ein Schuljunge."
Diese Argumentationslinie setzt Hacke fort, wenn er über "Trumps semi-autoritäre Attitüde und seine unverhohlene Kumpanei mit den Feinden der Demokratie" schreibt.
Dagegen reiben sich die gewieften Autokraten und Diktatoren schon seit Monaten die Hände, seit der amerikanische Präsident mit schlafwandlerischer Ahnungslosigkeit sie umwirbt"
Damit verspiele der US-Präsident "die Rolle der USA als Führungsmacht des Westens" und "verschleudert … das Ansehen der USA als Weltordnungsmacht".
Und ganz besonders die Bundesrepublik habe hierbei das Nachsehen. War sie doch sechzig Jahre lang geschätzter Verbündeter der Vereinigten Staaten, sei sie nun "Trumps Intimfeind Nummer eins".
Hacke untermauert seine Argumentationsdramatik, indem er Trump hinsichtlich der deutschen Militärpolitik Recht gibt. Deutschland sei "undankbarer Trittbrettfahrer" statt verlässlicher militärischer Partner. Rufe des deutschen Außenministers nach Abzug amerikanischer Nuklearwaffen aus Deutschland trügen lediglich zu weiterer Ausdünnung der transatlantischen Sicherheitsgarantie bei.
Verteidigungsausgaben müssten endlich erhöht werden, forderte Hacke. Dabei war eben im Sommer beschlossen worden, dass das Bundesverteidigungsministerium eine Rücklage für Rüstungsinvestitionen und damit neben der allgemeinen Erhöhung des Rüstungsetats faktisch einen Schattenhaushalt bilden und damit die Zweckbindung der öffentlichen Gelder umgehen kann.
Vor allem aber müsse offen überlegt werden, "ob und unter welchen Bedingungen Deutschland Atommacht werden könnte".
Eine zukünftige deutsche "Landesverteidigung auf der Grundlage eigener nuklearer Abschreckungskapazitäten" müsse "angesichts neuer transatlantischer Ungewissheiten und potenzieller Konfrontationen Priorität bekommen".
Hacke sieht es als Aufgabe an, auszumachen, "unter welchen Bedingungen und zu welchen Kosten" die "Zentralmacht Europas Atommacht" werden könne.
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Macron am Hebel - "Europäisierung" des französischen Atomwaffenarsenals
Ebenso sieht Michael Rühle, ehemaliges Mitglied des internationalen Stabs im NATO-Hauptquartier, die Zeit gekommen, da "Deutschland nuklearpolitisch wieder sprechfähig" werden müsse. Dies schreibt Rühle in seinem Artikel "Debatte der Extreme - Anmerkungen zur deutschen Diskussion über nukleare Abschreckung" in der aktuellen Ausgabe der von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegebenen Zeitschrift "Internationale Politik".
Jedoch positioniert sich Rühle zwischen den beiden vermeintlichen Extremen der deutschen Debatte -einmal den Ruf, den Nuklearwaffen-Verbotsvertrag zu unterzeichnen, und andererseits die Forderung nach einer deutschen Atombombe.
Deutschland trage "die stärkere Betonung der Bedeutung der nuklearen Abschreckung in den einschlägigen Dokumenten der NATO mit". Und die NATO müsse
nach Auffassung aller Verbündeten eine 'nukleare Allianz' bleiben, solange Kernwaffen existieren."
Dies schreibt Rühle vor dem Hintergrund des im September 2017 von der UN-Generalversammlung vorgelegten Atomwaffenverbotsvertrages. Der Vertrag verbietet die Entwicklung, Verbreitung, Tests und Lagerung von Atomwaffen, jedoch hat ihn bisher kein NATO-Mitgliedsland unterzeichnet. Doch werde der Vertrag "schon bald zu einer dauerhaften politisch-moralischen Realität".
Die politische und militärische Führung muss (...) in der Lage sein, die nukleare Abschreckung gegen ihre Kritiker zu verteidigen, die immer wieder aufs Neue versuchen werden, das Konzept zu desavouieren."
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Jedoch distanziert sich Rühle von der Forderung Hackes nach einer "deutschen Bombe" und warnt vor den negativen Folgen, "den völkerrechtlichen Hürden und den Konsequenzen für die nukleare Nichtverbreitung bis zu den zu erwartenden schwerwiegenden innereuropäischen und transatlantischen Auseinandersetzungen".
Auch Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, fragte nach den Konsequenzen einer nuklearen Bewaffnung Deutschlands und. Was würde "dann zum Beispiel die Türkei oder Polen hindern, diesem Schritt zu folgen"? Deutschland "als Totengräber des internationalen Nichtverbreitungsregimes"?
Stationierung französischer Raketen in Deutschland oder Polen
Stattdessen richtet sich der Blick auf den Nuklearnachbarn Frankreich. Zwar hatte dieser sich wiederholt gegen gemeinsame europäische Nuklearstreitkräfte unter Führung der EU gestellt und auch jegliches Mitspracherecht durch Kofinanzierung französischer Nuklearstreitkräfte seitens Berlin abgelehnt.
Doch schlägt Bruno Tertrais, stellvertretender Direktor der Pariser Fondation pour la Recherche Stratégique in der aktuellen Ausgabe von "Internationale Politik" vor, Frankreich könne die Beistandsklausel der EU im Sinne einer nuklearen Schutzgarantie interpretieren. In seinem Artikel "Europas nukleare Frage- Realistische Szenarien für eine europäische Bombe" betont auch er, wegen der "Unsicherheit in den transatlantischen Beziehungen" sei es an der Zeit für eine offene Diskussion über das Thema.
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Beispielsweise könne Paris in dem Rahmen Kampfflugzeuge auf Stützpunkten der EU-Verbündeten stationieren. Und falls der bisherige Bündnispartner USA gar seine Atomwaffen aus Europa abziehen würde, könnte auch erwogen werden, einen Teil der französischen Raketen in Deutschland oder Polen zu stationieren. Die Nicht-Atommächte hingegen könnten möglicherweise verpflichtet werden, "sich mit konventionellen Mitteln an einem Atomschlag zu beteiligen".
Jüngst forderte der französische Präsident Emanuel Macron den Aufbau einer "wahren europäischen Armee." In dem Zusammenhang warnte er vor Russland und meinte, "mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA" müsse sich Europa verteidigen.
Vor dem Hintergrund einer möglichen französischen Forderung nach der Beteiligung nicht-nuklearer Länder an einem Atomschlag steht die Frage im Raum, wie sich das in der Praxis mit der unterschiedlichen Herangehensweisen an völkerrechtswidrige Kriegszüge verträgt.
Frankreich hatte erst im Frühjahr bei der US-geführten Offensive in Syrien hohe Bereitschaft gezeigt, auch ohne UN-Mandat beispielsweise Einrichtungen der syrischen Regierung sowie zivile Gebäude zu bombardieren.
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