von Bernd Murawski
(Teil 1 von 2)
Es ist still geworden um den Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia Anfang März im englischen Salisbury. Wird womöglich befürchtet, dass eine andauernde Kampagne Gelegenheiten für unbequeme Fragen bietet, wie etwa jene nach den Absichten hinter der Abschirmung der Opfer?
Ein Etappenziel ist erreicht: Russland wurde ein weiteres Mal an den Pranger gestellt. Die Schuldzuweisungen westlicher Politiker gipfelten in der Äußerung des ehemaligen britischen Außenministers Boris Johnson, auf dem europäischen Kontinent sei zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein Nervengift eingesetzt worden. Aus dem Mordversuch wurde ein Tötungsdelikt, als Dawn Sturgess am 8.7. starb, nachdem sie sich durch Nowitschok aus einer Parfümflasche infiziert haben soll. Anfang September setzte es den nächsten Schlag, als die Metropolitan Police zwei russische Tatverdächtige präsentierte, die sogleich von der britischen Regierung zu GRU-Agenten erklärt wurden.
Indem Vermutungen und Unterstellungen von einer breiten Front aus westlichen Medien, Politikern und Fachleuten wiederholt kolportiert wurden, erlangten sie für Nachrichtenkonsumenten den Rang von Fakten. Tatsächlich sind die Stellungnahmen der britischen Polizei zum Giftanschlag lückenhaft und widersprüchlich, sie beruhen überdies auf zweifelhaften Annahmen. Mittels einer kritischen und sachgerechten Analyse lässt sich nicht nur die offizielle Version als wenig plausibel einstufen, es werden zugleich Hinweise auf die eigentlichen Täter und deren Motive gefunden.
Die aktuelle Version zu den Bewegungen der Opfer
Im Zwischenbericht der Metropolitan Police vom 5. Juni wurde auf den beträchtlichen Untersuchungsaufwand verwiesen: 250 Detektive aus Anti-Terrorismus-Abteilungen im Einsatz, 176 Einzelrecherchen durchgeführt, mehr als 900 Zeugenaussagen aufgenommen, 4000 Stunden Aufzeichnungen von Überwachungskameras gesichtet. Darüber hinaus wurden 190 Proben gesammelt und dem Labor der Forschungsstation Porton Down übergeben. Angesichts dieser umfangreichen Bemühungen erscheinen die Angaben zum Bewegungsprofil der Skripals recht dürftig:
- 3. März, 14:40 Uhr Julias Ankunft in Heathrow
- 4. März, 9:15 Uhr in Sergejs PKW, am Zentrum von Salisbury vorbei in nordöstliche Richtung
- 13:30 Uhr im PKW, aus Richtung des Wohnorts zum Zentrum
- 13:40 Uhr Ankunft auf dem „Maltings“-Parkdeck, danach Besuch des „Bishops Mill Pub“
- 14:20 Uhr Betreten des Restaurants „Zizzi“ und dessen Verlassen um 15:35
- 16:15 Uhr Eintreffen der Mitteilung über den Zustand der Skripals beim Notdienst, nachdem sie bewusstlos auf einer Parkbank im Avon Playground gefunden wurden.
Der Zeitablauf ist nicht nur unvollständig, er weicht auch von den ursprünglichen Angaben der Polizei vom 17. März ab. Danach hätten die Skripals zuerst das Restaurant besucht und anschließend den Pub, was mehr Sinn macht. Diese Reihenfolge deckt sich mit den Zeugenaussagen, sie wird ferner durch die Aufzeichnungen der Kameraüberwachung im „Mill Pub“ bestätigt. Außerdem fehlt als wesentlicher Mosaikstein in der Zeitleiste die Fütterung von Enten am Avon Playground, der sich neben dem Parkdeck befindet. Sie fand um 13:45 Uhr statt, wie Aufnahmen einer Videoanlage belegen. Sergej Skripal reichte dabei Brotstücke an drei Jungen.
Zum Aufenthalt der Skripals zwischen 9:15 bis 13:30 konnten die polizeilichen Ermittler nach eigenen Aussagen keine Angaben machen, da die Mobiltelefone ausgeschaltet waren. Lücken gebe es ebenfalls hinsichtlich der späteren Bewegungen der Skripals im Zentrum von Salisbury. Auch existierten keine gesicherten Belege für die Annahme, beide hätten zwischenzeitlich Sergejs Haus aufgesucht und sich dort dann an der Türklinke mit Nowitschok infiziert.
Dies erscheint unverständlich, da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des polizeilichen Zwischenberichts Julia seit neun Wochen und Sergej seit mehr als zwei Wochen nicht mehr in stationärer Behandlung und damit wohl vernehmungsfähig waren. Für die Ermittlung des Bewegungsprofils dürfte zudem weitaus mehr Videomaterial verwertbar sein als veröffentlicht wurde. Wie das für die Überwachung verantwortliche Wiltshire Council auf Anfrage bestätigte, waren alle installierten Anlagen Anfang März diesen Jahres funktionsfähig.
Die Präsentation von Verdächtigen
Gleichsam spärlich sind die Angaben zu den Bewegungen der beiden Tatverdächtigen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow, die am 5. September der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Vom ersten Tag ihres Aufenthalts in Salisbury, dem 3. März, wurde ein einziges Bild publiziert, das sie am automatischen Ticket-Eingang zeigt. Die Schlussfolgerung, sie hätten die Umgebung ausgekundschaftet, wurde jedenfalls nicht belegt.
Für den folgenden Tag, an dem der Anschlag auf die Skripals stattfand, wurden ganze fünf Bilddokumente mit Petrow und Boschirow veröffentlicht, wovon zwei jeweils die Ankunft und die Abfahrt am Bahnhof zeigen. Aus diesen Angaben ergibt sich für die Bewegungen der beiden am 4. März die folgende Zeitschiene:
- 11:48 Uhr Ankunft in Salisbury
- 11:58 Uhr Passieren der Shell-Tankstelle an der Wilton Road (ca. sechs Minuten Fußweg von Sergej Skripals Haus entfernt)
- 13:05 Uhr Fußmarsch entlang der Fischerton Street im Zentrum, in Richtung Bahnhof
- 13:08 Uhr Fortgesetzter Gang, vorbei am Summerlock Approach
- 13:50 Uhr Eintreffen am Bahnhof.
Die Existenz erheblicher Lücken ist kaum nachvollziehbar, da nicht nur das Bahnhofsgelände mit Kameras vollgespickt ist, sondern sich die Überwachung auf alle Routen in Richtung der Wohnstätte Skripals und erst recht auf den Innenstadtbereich in entgegengesetzter Richtung erstreckt. Sollte es Petrow und Boschirow gelungen sein, die Anlagen zu umschiffen? Anhand eines an die Öffentlichkeit gelangten Bilddokuments ist erkennbar, dass die Metropolitan Police nur jeweils Ausschnitte präsentiert hat und die Überwachungskameras tatsächlich einen weitaus größeren Bereich abdecken. Beide mussten daher an verschiedenen Orten erfasst worden sein.
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Ein der Daily Mail zugespieltes Dokument zeigt die Tatverdächtigen, wie sie sich vor Dauwalders Geschäft die Briefmarken- und Münzsammlungen im Schaufenster betrachten. Dies geschah laut Zeitstempel um 13:48, wobei angenommen werden kann, dass eine korrekte Zeiteinstellung vom Versicherer der recht wertvollen Ware verlangt würde. In diesem Fall wären beide nach 13:08 ins Zentrum zurückgekehrt und hätten sich 40 Minuten später erneut in Richtung Bahnhof bewegt. Die rund 500 Meter von Dauwalders zum Bahnhof hätten dabei in weniger als zwei Minuten bewältigt werden müssen, was nahezu unmöglich ist. Ähnlich fragwürdig ist die Zeitdifferenz vom Bahnhof zur Shell-Tankstelle. Für eine Strecke von 1,2 km standen ganze 10 Minuten zur Verfügung, was sich schwerlich mit dem auf dem Bild erkennbaren gemächlichen Schritt der beiden vereinbaren lässt. Dies erweckt Zweifel hinsichtlich der Zeitangaben auf allen präsentierten Kamera-Aufnahmen.
Nach den von der Polizei veröffentlichten Dokumenten wäre den vermeintlichen Attentätern ein Zeitfenster von maximal 45 Minuten verblieben, um die Türklinke an Sergej Skripals Haus mit einer giftigen Substanz zu präparieren. Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Metropolitan Police nicht das gesamte verfügbare Bildmaterial publiziert. Da die Erstellung eines weitaus exakteren Bewegungsprofils dennoch möglich sein müsste, wird die Vermutung gestärkt, dass mit der getroffenen Auswahl ein Verdacht auf die beiden russischen Staatsbürger gelenkt werden sollte.
Mögliche Motive des Kreml
Vielfach wird der Einwand geäußert, dass tatsächliche GRU-Agenten nicht derart stümperhaft agieren würden. Sie wären motorisiert gewesen, hätten das Tageslicht gescheut und vermutlich Schutzkleidung getragen, um sich nicht selbst zu infizieren. Außerdem wären sie kaum anschließend im Zentrum von Salisbury umhergeschlendert, zumal der nächste Zug in Richtung London den Bahnhof um 13:27 verließ. Es könnte nun entgegnet werden, dass die russische Seite über die nahezu flächendeckende Videoüberwachung im Bilde war. Sie könnte zu der Überzeugung gelangt sein, dass als einfache Touristen getarnte Täter letztlich weniger auffallen würden. Zugleich ließe sich der Verdacht vom GRU ablenken, dem allgemein ein hohes Maß an Professionalität zugeschrieben wird.
Der Spionage-Experte Christopher Nehring hält eine direkte Beteiligung offizieller russischer Stellen für unwahrscheinlich, weil bislang - aus nachvollziehbarem Grund - noch nie ein ausgetauschter Ex-Agent liquidiert wurde. Dagegen betrachtet er es als möglich, dass jemand aus den Apparaten eigenmächtig handelte. Diese Alternative hätte die britische Regierung durch die Formulierung in Betracht gezogen, dass die russische Führung entweder direkt hinter dem Attentat gestanden oder die Kontrolle über das Nowitschok verloren habe. Im letztgenannten Fall wäre sie zur Aufklärung verpflichtet. Diese wird allerdings dadurch erschwert, dass sich die britische Seite kooperationsunwillig zeigt und beispielsweise die Überlassung von Nowitschok-Proben verweigert.
Hat Wladimir Putin aber nicht gedroht, Verräter zu bestrafen? Hier ein Motiv herzuleiten würde unterstellen, dass der russische Präsident sich von Stimmungen leiten ließe. Gleichwohl wird ihm Rationalität und Cleverness zugeschrieben, um vor seiner vermeintlichen Gefährlichkeit zu warnen. Angesichts bevorstehender Präsidentenwahl und Fußball-Weltmeisterschaft wie auch sich erholender Wirtschaftsbeziehungen wäre die russische Regierung töricht, würde sie wegen eines Racheakts einen Imageverlust riskieren.
Doch nicht nur hinsichtlich der Motivsuche tappen die Ermittler im Dunkeln, sondern auch bei der Erklärung, weshalb gerade die vermutete Attentatsform gewählt worden sein soll. Dagegen sprechen nicht nur die Gefahren, beobachtet zu werden und sich selbst zu infizieren. Auch besteht ein gewisses Risiko, dass eine andere als die Zielperson nach der Türklinke greift.
Die Türklinken-Mär
Dass die Skripals sich durch ein Berühren der Türklinke infizierten, wird mit der hohen Nowitschok-Konzentration der dort genommenen Probe begründet. Zuvor gab es anderweitige Vermutungen, wie die Kontamination erfolgt sei, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Neben den erwähnten Problemen einer unauffälligen und sicheren Anbringung des Giftstoffes gibt es gewichtigere Faktoren, die das von den Ermittlern verbreitete Narrativ in Zweifel ziehen.
Zwischen dem Anfassen der Klinke und den ersten Vergiftungssymptomen müssen mindestens drei Stunden vergangen sein. Dass die Skripals während dieser Zeit wohlauf waren, belegen sowohl ihre Aktivitäten als auch Zeugenaussagen. Wie die Daily Mail unter Berufung auf britische Geheimdienstquellen berichtete, sei es Russland gelungen, eine Nowitschok-Version zu entwickeln, die erst mit Verzögerung wirke. Es hätte dabei die Absicht im Vordergrund gestanden, die eigenen Agenten rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Bislang wurde eine solche Möglichkeit angesichts der extremen Giftigkeit des unter dem Kürzel A-234 firmierenden Nervenkampfstoffes ausgeschlossen. Fraglich erscheint vor allem, ob ein derartiges Timing überhaupt zu erzielen sei, zumal es kaum möglich wäre, unter realen Bedingungen zu experimentieren. Nun handelt es sich bei den Opfern um Personen unterschiedlicher Kondition sowie verschiedenen Alters und Geschlechts. Zudem dürften sie nicht die exakt gleiche Menge des Nervengiftes abbekommen haben. Es wäre daher höchst unwahrscheinlich, dass die Wirkung nach mehreren Stunden bei beiden schlagartig zur selben Zeit eintritt. Dies musste aber der Fall gewesen sein, da andernfalls der zuletzt Betroffene einen Notarzt alarmiert hätte.
Sollte sich ein Nervengift auf die Skripals durch Berühren der Türklinke übertragen haben, dann wäre es zweifellos an Gegenstände weitergegeben worden, die von ihnen angefasst wurden. Tatsächlich hatten Experten der Forschungseinrichtung Porton Down nach eigenen Angaben Spuren von Nowitschok in Proben nachgewiesen, die aus dem „Bishops Mill Pub“ und dem „Zizzi“ stammen. Wie konnten dann aber die drei Jungen, die um 13:45 Brotkrumen von Sergej Skripal entgegennahmen und damit Enten fütterten, verschont geblieben sein? Einer von ihnen hat gemäß der Videoaufzeichnung sogar von dem Brot gegessen.
Ähnlich obskur erscheint die Infizierung des Polizeibeamten Nick Bailey. Wurde zuerst behauptet, die Kontamination wäre bei der Parkbank erfolgt, so lautet die aktuelle Version, er sei zu Skripals Haus geschickt worden und hätte die Türklinke angefasst. Warum soll er das Haus aufgesucht haben, wo ein Kriminaldelikt doch erst zwei Tage später vermutet wurde?
Tatsächlich wurde von den Krankenhausärzten zunächst angenommen, dass die Skripals an einer Fentanyl-Vergiftung litten. Dafür sprachen die Symptome, die sich nach der Aussage von Experten deutlich von jenen eines chemischen Kampfstoffes unterscheiden. Hätte sich dann nicht auch das Krankenhauspersonal infizieren müssen?
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