von Marinko Učur
Am selben Tag, an dem Serbiens Präsident Aleksandar Vučić seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin um Unterstützung für seinen Plan zur Lösung des Kosovo-Problems bat, kündigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg seine Ankunft in Serbien und seine Anwesenheit an einer Militärübung an. "Dies ist die erste von Serbien ausgerichtete Übung, die eine starke und hochgeschätzte Partnerschaft zwischen Serbien und der NATO widerspiegelt", sagte Stoltenberg.
Wie brüchig die "hochgeschätzte Partnerschaft" noch ist, davon zeugt die Aussage eines namentlich nicht genannten hochrangigen Beamten eines "wichtigen NATO-Mitgliedsstaates", der den serbischen Behörden unmissverständlich zur Kenntnis gab, dass ein eventueller Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz von Serben auf dem Territorium des selbst ernannten "Staates Kosovo" einen Konflikt hervorrufen würde – aber nicht mit den Sicherheitskräften Kosovos, sondern mit den Vertretern der dort eingesetzten NATO-Mission (KFOR), in deren Rahmen tausende US-Soldaten seit fast 20 Jahren auf der Militärbasis Bondsteel im Kosovo stationiert sind.
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De jure ist die NATO im Kosovo mit der Aufgabe vertraut, einen brüchigen Frieden aufrecht zu erhalten. De facto wird sie aber von nicht wenigen Serben als eine Besatzungstruppe empfunden, die einzig und allein dazu dient, die Schaffung eines neuen Staates auf dem Territorium Serbiens abzusichern.
Da mehr als die Hälfte der UN-Mitgliedsstaaten das Kosovo nicht als souveränes Land anerkannt hat und es aufgrund des Widerstands von Russland und China sowie fünf EU-Staaten kein UN-Mitglied ist, ist die Lage vor Ort viel komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint.
Sorgfältig beäugt der Westen jede Bewegung der serbischen Streitkräfte vor Ort. Die jüngste Verlagerung der Streitkräfte im Süden Serbiens in Richtung der administrativen Grenzlinie zum Kosovo, die von internationalen Truppen und der KFOR kontrolliert wird, erfolgte vor zwei Wochen, als Präsident Vučić den "Bereitschaftszustand" für die Armee ausgerufen hatte. Zuvor hatte Kosovo-Präsident Hashim Thaçi die serbische Seite provoziert, indem er bewaffnete Spezialeinheiten in die mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiete im Norden des Kosovos entsandte.
Belgrad betrachtete dies als Provokation und versetzte daraufhin die Armee in Alarmbereitschaft. Auch Moskau verurteilte die "protzige Invasion der kosovarischen Spezialeinheiten in die serbischen Gebiete". Das sei ein Verstoß gegen die Abkommen zwischen Belgrad und Priština und ein Versuch, "die im Kosovo lebenden Serben einzuschüchtern und Druck auf Serbien auszuüben". Der Anteil der Serben im Kosovo beträgt heute nur noch rund 7 Prozent, Kosovo-Albaner stellen 88 Prozent der Bevölkerung.
In der Zwischenzeit traf sich der serbische Präsident mit Wladimir Putin, um die Unterstützung Russlands zur Lösung des Kosovo-Problems zu ersuchen. Aleksandar Vučić beeilte sich anschließend, über serbische Medien der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass er von Putin "alles bekommen hat, wonach wir gesucht haben" – was zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit erregte!
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Was hat der russische Präsident seinem serbischen Amtskollegen versprochen? Und könnte es Belgrad als Argument für die Wiederaufnahme der Gespräche mit Priština dienen, die in den letzten Monaten in eine Sackgasse geraten waren?
Belgrader Analysten behaupten, Putin habe Vučić nichts Außergewöhnliches versprochen, außer weiterhin an dem prinzipiellen Standpunkt festzuhalten, sich der Aufnahme des Kosovos in die Vereinten Nationen zu widersetzen.
Die russische Zeitung Komersant, die die Auswirkungen von Vučićs Besuch im Kreml analysierte, kam auch zu dem Schluss, dass die russische Seite trotz des Optimismus des serbischen Präsidenten in Bezug auf das Kosovo keine weiterreichende Unterstützung zusagte.
Opposition: Vučić tanzt auf zwei Hochzeiten gleichzeitig
Oppositionspolitiker werfen Vučić vor, dass er versuche, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, also einerseits Russlands Unterstützung ersucht und andererseits militärische Übungen mit der NATO abhält. Belgrad wiederholt oft Floskeln, wonach die "Option, der NATO beizutreten", nicht auf der Tagesordnung stehe, was für die Mehrheit der serbischen Öffentlichkeit akzeptabel ist.
Aber es ist offensichtlich, dass die Regierung in Belgrad ihre bereits getroffenen Vereinbarungen mit der NATO, einschließlich militärischer Aktivitäten, an denen Serbien als Mitglied der "Partnerschaft für den Frieden" teilnimmt, nicht verhehlen kann.
Der Besuch Stoltenbergs und die damit verbundene gemeinsame Übung mit der NATO löste Kontroversen in der serbischen Gesellschaft aus. Der Vorgang deute darauf hin, "dass sich die serbische Regierung von der militärischen Neutralität unseres Landes entfernt und dass der Boden für den Beitritt Serbiens in die NATO bereitet wird", heißt es etwa in einem Tweet der rechten Oppositionspartei SPDveri.
Trotz der Annäherung hat die NATO kein offenes Ohr für Serbien, wenn es um das Kosovo geht. Der Westen zögerte nicht, Vučić mitzuteilen, dass eine "bewaffnete Aktion der serbischen Armee im Kosovo zum Schutz der serbischen Bevölkerung einen offenen Konflikt mit KFOR-Truppen bedeuten würde". Serbien wurde unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich auf ein solches Abenteuer nicht einlassen sollte.
Thaçi spielt mit der serbischen Geduld und entsandte Spezialeinheiten in den Norden der ehemaligen serbischen Provinz, da er weiß, dass er sich dabei der Unterstützung jener Kräfte gewiss sein kann, die einst die Existenz des Staates Kosovo mit ihrer Aggression gegen Serbien und die vormalige Bundesrepublik Jugoslawien herbeigebombt hatten.
Die Mehrheit der serbischen Öffentlichkeit glaubt, dass jegliche militärische oder polizeiliche Aktivität der albanisch-kosovarischen Behörden – wie die jüngste Entsendung von Spezialeinheiten in den Norden des Kosovos – mit dem Westen koordiniert wird. Solche Provokationen stehen in engem Zusammenhang mit der Ankündigung der Gründung einer sogenannten "Kosovo-Armee", dem sich sowohl die im Kosovo verbliebenen Serben als auch der serbische Staat widersetzen.
Der Analytiker der Belgrader Tageszeitung Nowosti, Rade Dragović, kommentierte:
Wozu braucht dieser sogenannte Staat eine Armee, wenn diese im Grunde schon besteht – in Form der dort stationierten NATO-Armee, die eine Art Schutz für die verbliebenen Serben bietet? Eine mögliche albanische Armee würde sicherlich von ehemaligen UÇK-Mitgliedern organisiert, also von Terroristen, die sich Militäruniformen umhängen. In einem solchen Fall würde es in diesem experimentellen NATO-Staat, der durchtränkt ist von Korruption, Kriminalität und Drogenhandel, für die nicht-albanische Bevölkerung keinen Platz geben.
Für solche Bedenken von der serbischen Seite zeigt der Westen jedoch kein Verständnis. Serbien bleibt zum Trost die Erkenntnis, dass Russland und China seine territoriale Integrität und den Dialog zwischen Belgrad und Priština unterstützen werden, und zwar mit Lösungsvorschlägen, die die Interessen aller Seiten berücksichtigen.
In einer ähnlichen Richtung äußerte sich der Vermittler im Dialog zwischen Belgrad und den Kosovo-Behörden, Robert Cooper, der allen regionalen Führern auf dem Balkan empfahl, dass es „am besten ist, nicht das zu tun, was die EU oder die NATO sagt, sondern selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden".
Eine gewisse Erleichterung dürfte sich unter den Befürwortern einer intensiveren russisch-serbischen, vor allem wirtschaftlichen Annäherung aus der Tatsache ergeben, dass Belgrad voraussichtlich im Dezember Putin empfangen wird. Sie erhoffen sich von dem Besuch des russischen Präsidenten, dass er die Serben bei der Suche nach einer Lösung im Einklang mit der UN-Resolution 1244 unterstützt, die die "Souveränität und Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien" beziehungsweise ihres Rechtsnachfolgers Serbiens einfordert.
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