von Leo Ensel
Prominenten Besuch erwartete das Deutsch-Russische Forum am Freitag anlässlich seines 25-jährigen Bestehens im Berliner Hotel Adlon-Kempinski: Unmittelbar vor seinem Zusammentreffen mit Außenminister Maas nahm sich der russische Außenminister Sergei Lawrow fast anderthalb Stunden Zeit, um einem ebenfalls hochkarätigen Publikum seine Vision eines Auswegs aus der gegenwärtigen Eskalationsspirale darzulegen und Fragen zu beantworten.
Schon das Thema des zwanzigminütigen Vortrags klang versöhnlich: „Integrationsprozesse im Großen Eurasien – Perspektiven eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raumes von Lissabon bis Wladiwostok“. Das ließ Erinnerungen an Michail Gorbatschows „Gemeinsames Haus Europa“ wachwerden. Und Lawrow holte weit aus: Nicht nur die russischen Eurasier der Zwanziger und Dreißiger Jahre, auch Charles de Gaulle im Westen benannte er als Vordenker seines Konzeptes. Russland habe im Laufe des vergangenen Jahrzehntes wiederholt Initiativen in dieser Richtung unterbreitet.
Lawrow erinnerte an Dmitri Medwedews Vorschlag einer „Paneuropäischen Sicherheitsstruktur“, die dieser zusammen mit der Idee einer neuen euroatlantischen Friedenscharta von Vancouver bis Wladiwostok im Juni 2008 bei seinem Antrittsbesuch in Berlin unterbreitet habe. Auch Wladimir Putin habe noch im November 2011, ebenfalls im Berliner „Adlon“, die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und Russland vorgeschlagen.
„Ein Jahrzehnt der verpassten Möglichkeiten“
Dem russischen Außenminister war die Enttäuschung über die Echolosigkeit der damaligen russischen Initiativen deutlich anzumerken. Das vergangene Jahrzehnt bezeichnete er als „Jahrzehnt der verpassten Möglichkeiten“. Dabei hätten „historische antirussische Phobien“ einiger EU-Länder eine wichtige Rolle gespielt, obwohl Russland für die EU keine Bedrohung darstelle. Das lange angestrebte Konzept eines visafreien Raumes zwischen EU und Russland sei nicht realisiert worden. Brüssel habe Hindernisse aufgebaut und gegenüber Russland nicht nur ein Nullsummenspiel, sondern ein „Negativsummenspiel“ praktiziert, indem es postsowjetische Staaten wie die Ukraine vor die Entweder-oder-Alternative gestellt habe. Mit dem EU-Assoziierungsabkommen habe die EU versucht, die historisch gewachsenen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine zu kappen. Russische Vorschläge zur Organisation trilateraler Beziehungen habe Brüssel abgelehnt.
Die gegenwärtige Situation zwischen Russland und der EU sowie zwischen Russland und der NATO seien durch einen Abbruch fast aller Kommunikationskanäle gekennzeichnet. Es gäbe keine Gipfeltreffen zwischen der EU und Russland, selbst die Wege von Terroristen würden nicht ausgetauscht. Kontakte gäbe es nur noch zu den Themen „Migration“ und „Energie“. Der Westen betreibe seinerseits einen „hybriden Krieg“ an der Grenze zu Russland, er habe Unsummen für einen Regime Change in der Ukraine ausgegeben und benutze NGOs als „Kampfmittel“. Diese würden in Russland jedoch nicht verboten, müssten sich allerdings als „ausländische Agenten“ registrieren lassen.
Der Konflikt in der Ukraine als Haupthindernis
Immer wieder führte Lawrow die Ereignisse in der Ukraine seit Ende 2013 als Hauptursache für die Entfremdung zwischen Russland und der EU an. Obwohl die Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands noch am 21. Februar 2014 in Kiew ein Abkommen mit allen Konfliktparteien geschlossen hätten, sei dieses „mit Füßen getreten worden“, weil der Westen sich bereits einen Tag später nach dem „Kiewer Putsch“ nicht mehr an dieses Abkommen gebunden gefühlt habe. Auf diese Weise habe der Westen eine „Regierung der nationalen Einheit“ in der Ukraine verhindert. Die Menschen im Donbass, die den Umsturz nicht mitmachen wollten, seien von Kiew als Terroristen bezeichnet worden, obwohl sie niemanden angegriffen hätten. Die Staaten der Europäischen Union hätten auf Druck der USA durch die Spirale von Sanktionen und Gegensanktionen starken ökonomischen Schaden in Kauf genommen, während die USA selbst keinerlei Schaden davongetragen hätten.
Nach wie vor setze Kiew seine Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen nicht um. Statt die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Donbass wiederherzustellen, das Bankensystem zu reorganisieren und die Renten auszuzahlen, habe Kiew bereits seit langem eine Totalblockade für den Donbass angekündigt. Kiew weigere sich ebenfalls, seine Truppen im Donbass zu entflechten und die sogenannte „Steinmeier-Formel“ – zeitliche Koppelung der Anerkennung eines Sonderstatus für die Regionen Donezk und Lugansk mit der Veröffentlichung der dortigen Wahlergebnisse – umzusetzen.
Solange dieser Zustand anhalte, seien sowohl Russland als auch die EU „Geiseln der Ukraine-Krise“.
„Die Potentiale zusammenlegen!“
Dabei sei eine erneute Annäherung von EU und Russlandfür beide Seiten die weitaus bessere Alternative. Die Potentiale aller Staaten des eurasischen Kontinents sollten zusammengelegt werden. Allerdings müsse dies rasch erfolgen, da die geopolitische Situation sich rasant verändere. So visiere die Eurasische Wirtschaftsunion gegenwärtig Freihandelszonen mit einer ganzen Reihe von Staaten von Ostasien über den Nahen Osten bis Afrika an. Auch sei geplant, das chinesische Konzept einer neuen Seidenstraße „One belt – one road“ um die nördliche Seeroute zu erweitern.
Die russisch-europäischen Beziehungen müssten „gesunden“. Voraussetzung dafür sei ein neues Konzept der Zusammenarbeit zwischen Europäischer und Eurasischer Union auf der Basis von Gleichberechtigung. Die „Renovierung des europäischen Hauses“ müsse allen Mitgliedern Rechnung tragen. Wichtig sei jetzt die Aufnahme eines „normalen Dialoges ohne westlichen Mentorenton und Forderungen nach einem russischen Sündenbekenntnis“. Zwischen den USA und Russland solle zudem ein bilaterales Gremium zur Cybersicherheit reaktiviert werden.
Zu einem solchen Prozess könnten Russen und Deutsche gemeinsam viel beitragen, denn, und das war die vielleicht bemerkenswerteste Aussage im Vortrag Lawrows: „Die deutsch-russischen Beziehungen funktionieren noch!“
Westliche Drohungen: Einladung für terroristische Giftgasprovokationen
Bei den anschließenden Fragen aus dem Publikum spielte erwartungsgemäß die besonders angespannte Lage in Syrien eine herausragende Rolle. Lawrow nannte die westliche Militärpräsenz in Syrien rechtswidrig, da sie nicht, wie Russland, „auf Einladung der syrischen Regierung“ agiere. Dennoch halte Russland die Kommunikationskanäle offen, um Schlimmeres zu verhüten.
Die Region Idlib bezeichnete der russische Außenminister als „letztes Bollwerk der Terroristen“, die Zivilisten als lebende Schutzschilde missbrauchten. Aus dieser Region seien bereits um die 50 Drohnen abgefeuert worden. Was einen möglichen Einsatz von Giftgas betreffe, so lägen der russischen Regierung Beweise vor, dass solche Provokationen mit Hilfe der Weißhelme vorbereitet würden, wovon der Westen allerdings nichts wissen wolle. Die gegenwärtige Diskussion um ein militärisches Eingreifen des Westens im Falle eines Giftgasangriffes sei geradezu eine Einladung an die Extremisten, ähnliche Fälschungen wie im April in Ost-Ghuta zu inszenieren.
Mit der Türkei habe Russland vereinbart, dass diese in der Region Idlib mithelfe, die moderaten Kräfte in der Opposition, zu denen sie Kontakt habe, von den Extremisten zu separieren. Russland werde vor allen militärischen Einsätzen humanitäre Korridore für die Zivilbevölkerung schaffen und sich nicht wie die USA in Mossul und Rakka verhalten, die den Rebellen keine Waffenruhe angeboten hätten.
Bei einem künftigen Wiederaufbau solle Syrien nicht in ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Gebiete eingeteilt werden. Langfristig könne nur das syrische Volk unter UN-Aufsicht über seine Zukunft entscheiden.
Lawrows Rede vor dem Deutsch-Russischen Forum brachte einerseits die russische Sicht der Dinge klar auf den Punkt, andererseits ließ sie keinen Zweifel offen, dass Russland nach wie vor an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Europäischen Union interessiert ist und diese auf eine breitest mögliche Grundlage stellen möchte. Da offensichtlich die ungelöste Ukraine-Krise das Haupthindernis für eine Wiederannäherung ist, sollten beide Seiten alles ihnen Mögliche tun, damit die Vereinbarungen von Minsk endlich Punkt für Punkt umgesetzt werden!