Alexander Sachartschenko betrat das Restaurant "Separ" (als Kurzform von "Separatist") im Zentrum von Donezk mit seinem Leibwächter und dem Donezker Finanzminister Alexander Timofejew am 31. August um 17:30 Uhr Ortszeit. Im Restaurant befanden sich viele Menschen, denn es sollte eine Gedenkveranstaltung für den tags zuvor verstorbenen berühmten russischen Sänger Iossif Kobson stattfinden. Der in der ganzen russischsprachigen Welt bekannte 80-jährige Star stammte aus dem Donbass und genoss in der Region hohes Ansehen.
Dann blitzte unterhalb der Decke etwas auf, und eine wuchtige Explosion verwüstete den Eingangsbereich des Lokals – sogar Möbel wurden durch die Fenster auf die Straßen geschleudert. An der Theke zerbrach dagegen kein einziges Glas. Wie sich später herausstellte, wurde der Sprengsatz mit einer richtungslenkenden Vorrichtung an einer Lampe montiert und per Funk gezündet, als Sachartschenko an der Lampe vorbeiging. Bilanz: Der Donezker Präsident und sein Leibwächter sind tot, elf Personen wurden verwundet. Alexander Timofejew entging mit Brandwunden am Kopf nur knapp dem Tod.
Sachartschenko, der bereits mehrere Anschläge überlebt hatte, war dafür bekannt, seiner eigenen Sicherheit wenig Beachtung zu schenken. Genauso wie viele andere charismatische Feldkommandanten der Donezker und Lugansker Volkswehr – die bereits vor ihm nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Hinterland durch Anschläge getötet wurden. Die größten Verluste hatte die Donezker Volksrepublik (DVR) im Oktober 2016 und Februar 2017 zu verzeichnen, als die Kommandanten Arsen "Motorola" Pawlow und Michail "Giwi" Tolstych durch Anschläge getötet wurden. Donezker Behörden gelang es eigenen Angaben zufolge in beiden Fällen, die Spuren bis nach Kiew zu verfolgen. Kiew war auch nicht wirklich darum bemüht, die eigene Täterschaft zu bestreiten.
Im Fall Sachartschenko indes liegen die Dinge etwas anders. Sachartschenko war nur in den ersten Monaten der Kämpfe im Jahr 2014 ein Feldkomandeur, spätestens seit seiner Wahl zum Präsidenten der Volksrepublik in November 2014 war er eine politische Figur und einer der Unterzeichner des Minsker Abkommens im Februar 2015. Wie konnten Diversanten in einem bewachten Lokal, das Personen aus dem innersten Donezker Machtzirkel gehörte, eine Bombe installieren? Wie erfuhren sie, dass Sachartschenko sich genau zu jener Zeit dort aufhalten würde?
Wenige Stunden nach dem Attentat vermeldeten die Donezker Behörden die Festnahme verdächtiger Personen:
Mehrere Personen wurden festgenommen – ukrainische Diversanten und Personen mit Verbindungen zu ihnen, die verdächtigt werden, den Anschlag auf den Präsidenten der Republik verübt zu haben. Sie sind auf dem Bogdan-Chmelkizki-Prospekt im Zuge der Sperrkontrollen der fahrenden Autos festgenommen worden", lautete die Kurznachricht.
Wenig später hieß es, die Festgenommenen hätten gestanden, im Auftrag ukrainischer Geheimdienste gehandelt zu haben. Sachartschenkos Berater Igor Kasakow versprach am 1. September, die Namen der Verdächtigten bald bekannt zu geben.
Das zynische Jubelfest in Kiewer Kreisen könnte in der Tat eine Bestätigung für einen ukrainischen Terrorakt sein. So postete der einflussreiche Blogger und offizielle Militärberater des ukrainischen Präsidenten Juri Birjukow nur eine Stunde nach dem Anschlag ein Foto des Chefs der ukrainischen Einheit für Sonderoperationen Igor Lunjow mit der Unterschrift: "Ich liebe dieses Foto so sehr ..." Die Kommentatoren lobten den Verfasser für das "vorzügliche Trolling".
Als witziges Trolling präsentierte sich auch die sogenannte "Chicken Party" vor der russischen Botschaft in Kiew: Einige Dutzend "Aktivisten" feierten den Tod von Kobson und Sachartschenko am Tag ihrer Beerdigung mit Sekt, Wodka und Hühnerfleisch. Da die beiden sich bereits erfolgreich selbst liquidiert hätten, sehnten die versammelten Personen mit dieser Aktion "in ihren Gedanken" auch den Tod Wladimir Putins herbei, erklärte der Aktivistensprecher Juri der mitfeiernden Journalistin eines ukrainischen Fernsehsenders.
Auch wenn diese öffentlich zur Schau gestellte Schadenfreude den Mord in Donezk als praktische Umsetzung der Kiewer Gedanken erscheinen lässt, stehen die Schuldigen noch nicht fest. Auch ist bislang nicht klar, wer genau für die Ermittlungen in Donezk zuständig ist und ob und wann Russland bei diesen hilft. Das russische Außenministerium pocht auf eine internationale Untersuchung. Auf jeden Fall: Solange die Ermittlung nicht abgeschlossen ist, bleibt der Boden für allerlei Theorien über die Täter und ihre Motive fruchtbar.
Bislang spricht zwar sehr vieles für einen ukrainischen Terrorakt, es gibt allerdings auch andere Theorien. Die russische Zeitung Moskowski Komsomolez (MK) fasste sie je nach Motivlage in drei Kategorien zusammen: politische, wirtschaftliche und persönliche.
1. Politische Motive: Alexander Sachartschenko war für die Ukraine als Symbol des Widerstands in Donezk nicht nur eine Reizfigur, sondern als Verfechter der "russischen Welt" durchaus auch ein ideologisch-politischer Gegner. Oft verkündete er seine Visionen von der Zukunft der Ukraine. So sagte er, nicht Donezk sei separatistisch, sondern die Ukraine, die sich von der eigenen Geschichte und Kultur abwende. Er könne sich vorstellen, in der Ukraine zu verbleiben, sofern diese sich Donezk anschließe und nicht umgekehrt. Deswegen könnten auch ideologisch motivierte Diversantengruppen diesen Anschlag "auf eigene Faust" verübt haben.
Eine der zentralen Versionen ukrainischer Offizieller lautet jedoch, Sachartschenko sei von Moskau beseitigt worden, weil er zu eigensinnig gehandelt habe. Aber derartige Verschwörungstheorien verbreiten ukrainische Behörden nach beinahe jedem Mord, der irgendetwas mit Russland oder der Ukraine zu tun hat. Der russische Sonderbeauftragte für den Donbass Wladislaw Surkow machte nach dem Tod Sachartschenkos publik, dass er ihn für einen Freund gehalten und sogar mit ihm Geburtstag gefeiert habe:
Auch an diesem Tag sage ich dir das, was ich dir immer an deinen Geburtstagen sagte: dass du ein mutiger Kerl bist, ein echter Held, und es war eine große Ehre, dein Freund zu sein", schrieb er in einem Schreiben an Sachartschenko, das auf der Homepage der Donezker Nachrichtenagentur DANveröffentlicht wurde.
2. Ökonomische Motive: Bei diesen könnten vor allem Eigentumsfragen bezüglich zahlreicher Industrieobjekte im Donezbecken sowie die Kontrolle über Geldflüsse in der international isolierten Protorepublik eine Rolle spielen. Sachartschenkos Umfeld wird oft vorgeworfen, sich beispielsweise an humanitärer Hilfe aus Russland bereichert zu haben. Auch die Rolle des Interimspräsidenten der Donezker Volksrepublik Dmitri Trapeznikow wirft Fragen auf. Als stellvertretender Vorsitzender des Volksrates trat er dieses Amt am 1. September zwar verfassungskonform an. Er gilt jedoch als ein Mann, der in Donezk eher für wirtschaftliche Fragen zuständig war. Früher war er Vorsitzender des Fan-Clubs des Donezker Fußballvereins Schachtar, der dem einflussreichsten Donezker Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Es sei daher durchaus vorstellbar, dass dieser in Trapeznikow künftig einen bequemeren Gesprächspartner habe, sollte die Frage nach Achmetows zahlreichen enteigneten Objekten eines Tages gestellt werden, schreibt MK. Bemerkenswert ist auch, dass Trapeznikow im Gegensatz zu Sachartschenko keine militärische Vergangenheit hat.
Wochen vor dem Mord kamen aus Donezk widersprüchliche Meldungen, die auf einen internen Machtkampf hindeuteten. Mal hieß es, die regulären Präsidentschaftswahlen in Herbst würden verschoben, dann hieß es wieder, sie fänden doch statt.
Wir können nicht behaupten, dass das Geschehene das Werk interner Feinden von Sachartschenko und Timofejew sei und die Ukrainer damit nichts zu tun hätten. Aber einige Umstände werden natürlich die Gerüchte befeuern, der Präsident der DVR sei nicht von ukrainischen Diversanten beseitigt worden, sondern von den eigenen Leuten", sagte Aleksandr Schutschkowski aus dem Umfeld der Donezker Volkswehr russischen Medien.
3. Persönliche Motive: Sachartschenko verkörperte die Donezker Volksrepublik nicht nur symbolisch. Die ganze Machtstruktur war auf seine Person ausgerichtet. Das wirkte zwar stabilisierend auf das Kriegsgebiet und half, das Chaos der ersten zwei Jahren zu überwinden, brachte ihm aber auch viele Gegner ein. Viele haben Haftstrafen ohne ordentliches Verfahren abgesessen oder befinden sich immer noch in Haft. Einige ehemalige Mitstreiter der ersten Stunde haben Donezk inzwischen verlassen und sich nach Russland abgesetzt. "Absolute Macht verdirbt", urteilte einer dieser Kämpfer in den Gesprächen mit MK über Sachartschenko.
Am 2. September zeigte die Stadt jedoch, dass sie den Tod von Alexander Sachartschenko aufrichtig betrauert. Verschiedenen Schätzungen zufolge kamen an diesem Tag zwischen 70.000 und 200.000 Menschen, um Abschied vom Ex-Kommandanten und Präsidenten der Volksrepublik zu nehmen. Es wurde dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Bei aller Kritik an den Zuständen in der international nicht anerkannten Volksrepublik, war Sachartschenko doch für viele Landesvater und Beschützer. Zahlreiche Menschen weinten. Er konnte den kleinen De-facto-Staat trotz des Krieges und aller Zerstörung stabilisieren. Die Unsicherheit in Donezk ist deswegen groß. Groß ist aber auch die Entschlossenheit, im Kampf um die Unabhängigkeit von Kiew nun erst recht nicht nachzugeben.