von Dr. Kamran Gasanow
Seit in der Türkei der Ausnahmezustand erklärt wurde, erhöhte die Regierung die Kontrolle über die Medien. Tausende "Gülen-Unterstützer" (FETÖ) wurden ins Gefängnis geschickt. Parallel dazu führt der türkische Machthaber eine aktive Kampagne, in der Türkei als eine "belagerte Festung" dargestellt wird und alle Probleme des Landes Feinden im Westen zugeschrieben werden. Insbesondere kritisierte Erdoğan die USA und die EU für die Unterstützung der Opposition, die kurdischen Separatisten in der Türkei, die Verschleierung von Gülen und seine Anhänger sowie die militärische Hilfe für die kurdischen Milizen in Syrien, gegen die die türkischen Streitkräfte gekämpft haben. Zwei Operationen in Syrien – "Schutzschild Euphrat" gegen IS und "Olivenzweig" gegen die kurdische Volksschutzeinheiten (YPG) – wirken positiv auf die Glaubwürdigkeit des amtierenden Präsidenten.
Die vorgezogenen Neuwahlen sind für Erdoğan erforderlich, damit die im letzten Jahr angenommene Verfassungsänderungen in Kraft treten. Erdoğan will die Türkei in eine Präsidialrepublik umwandeln, was ihm im Falle seines Sieges die volle Macht über das Land geben wird. Der Präsident wird am meisten von den Einwohnern ländlicher Gebiete unterstützt, deren finanzielle Situation sich unter Erdoğan verbessert hat.
Erdoğans Gegner hoffen auf die Quantität
Abgesehen von der kleinen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die nicht allzu viele Abgeordnete stellt und mit der herrschenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) verbündet ist, kämpft Erdoğan gegen alle. Die Opposition wird vom Physiklehrer und Spitzenkandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP) Muharrem İnce geführt. Im Unterschied zur AKP sind die Republikaner Anhänger des Säkularismus im Sinne von Mustafa Kemal Atatürk.
In einer unausgesprochenen Allianz mit der CHP stehen Liberale und säkulare Nationalisten der "Guten Partei" (İYİ) unter Führung von Meral Akşener. Nachdem die MHP beschlossen hatte, Erdoğan zu unterstützen, verließ Akşener die MHP und gründete ihre eigene Partei. Sie konzentriert sich auf die weiblichen Wähler und die Jugend, und sie kämpft gegen den Übergang zu einer präsidialen Regierungsform. İnce und Akşener priorisieren das säkulare Modell, aber sie stehen nicht auf anti-islamischen Positionen. Im diesem oppositionellen Lager sind auch die Liberaldemokraten aus der Demokratischen Partei (DP) und die islamistische Partei der Glückseligkeit (SP).
Argumente gegen Erdoğan
In seiner Wahlkampagne konzentrierte sich die Opposition auf die Kritik an Erdoğans Innenpolitik: Repression gegen Regimegegner, Massenentlassungen von Beamten und Lehrern und die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands. Hier können sich İnce und Akşener auf große Städte wie Istanbul, Ankara und Izmir verlassen, wo die Mehrheit der Bevölkerung säkular eingestellt ist. Stadtbewohner sind mit der Einführung von religiösen Prinzipien in den Bereichen Bildung und den öffentlichen Dienst unzufrieden. Die meisten jungen Menschen, etwa 60 Prozent, lehnen Erdoğan ab.
Unter die objektiven Argumente der Opposition fällt die Wirtschaftslage, die den ersten Platz unter den Problemen der Bevölkerung einnimmt. Die Stärkung der staatlichen Kontrolle über die Zentralbank, der Konflikt mit dem Westen und die Verfolgung der Opposition veranlassten die Ratingagenturen, die Kreditwürdigkeit der Türkei zu senken. Die Lira hat seit Anfang des Jahres fast 20 Prozent ihres Wertes verloren. Obwohl sich die Wachstumsrate im Zeitraum 2016-2017 verdoppelt hat (von 3,2 auf 7,4 Prozent), wurde dieser Erfolg durch die Erhöhung der Staatsverschuldung und der Arbeitslosigkeit (11,2 Prozent) wieder relativiert. Die Opposition versucht, die Wähler davon zu überzeugen, dass das Prinzip der "belagerten Festung" das Land in eine Finanzkrise führt.
Argumente für Erdoğan
Seinen Gegnern kann Erdoğan die außenpolitischen Errungenschaften entgegenhalten. Insbesondere zwei erfolgreiche militärische Kampagnen in Syrien, die Eröffnung der "Baku-Tbilisi Kars"-Eisenbahn und des ersten türkischen Atomkraftwerks "Akkuyu", das Abkommen über den Kauf von russischen S-400, der erfolgreiche Bau der Gaspipeline "Turkish Stream" aus Russland waren große Erfolge. Vor ein paar Tagen eröffnete Erdoğan auch die Transanatolische Pipeline (TANAP), die aserbaidschanisches Gas über die Türkei nach Europa transportieren wird. Kurz davor einigte sich die türkische Regierung mit den Amerikanern über den Abzug des Kurdenmiliz YPG aus Manbidsch in Nordsyrien. In naher Zukunft verspricht der Präsident eine Bodenoperation gegen kurdische Militante der PKK im Nordirak. Zudem sollte man Erdoğans Versuche erwähnen, mit Washington auf Augenhöhe zu sprechen, seine Aufrufe, aus der NATO auszutreten, und die Annäherung an Russland und den Iran in Syrien. Ein gewisser Teil der Muslime der Welt hält Erdoğan für den wahren Führer der islamischen Welt, weil er im Gegensatz zu den Golfmonarchien im palästinensischen Problem eine harte Position gegen Israel eingenommen hat.
Machtkonstellation
Die letzten Umfragen zeigen, dass Erdoğan mindestens 45 Prozent der Stimmen erhalten wird. Dies reicht jedoch nicht für den Sieg in der ersten Runde, für den über 50 Prozent erforderlich sind. In der zweiten Runde werden sich die Gegner des Präsidenten um den verbliebenen Kandidaten zusammenschließen. Laut Bloomberg wird Erdoğan mit 50,8 Prozent die Präsidentschaftswahl gewinnen. Jubel steht der AKP auch bei den Parlamentswahlen bevor, bei denen die AKP zusammen mit den Nationalisten die Mehrheit der Stimmen gewinnen wird. Die Zeitung Daily Sabah gibt eine für Erdoğan positive Prognose - 54 Prozent.
Eine Umfrage des lokalen Unternehmens Gezici zu Beginn des Monats sagte dem Präsidenten nur 47 Prozent voraus, was gegenüber den Werten der Vorwoche ein Verlust von fast zwei Prozent ist. Die AKP-MHP-Allianz erwarte auch ein Scheitern in der parlamentarischen Abstimmung, sagt die Agentur.
Kurdischer Faktor
Die Opposition hält auch Kontakt mit dem inhaftierten Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş, dessen Demokratische Partei der Völker (HDP) voraussichtlich mindestens zehn Prozent erreichen wird. Der Republikaner İnce hat Demirtaş bereits im Gefängnis besucht. Erdoğan wiederum beschuldigt Demirtaş, Terroristen zu unterstützen, und droht dem HDP-Führer mit der Todesstrafe. Einigen Schätzungen zufolge kann die Unterstützung von 20 Millionen Kurden für den Sieg der Opposition entscheidend sein, wenn die Wahlen in die zweite Runde gehen.
Außenpolitische Dimension
Der Doktor der Geschichtswissenschaften an der Universität Istanbul Mehmet Perinçek glaubt, dass der ideale Kandidat für die Präsidentschaft derjenige ist, der sich um die territoriale Integrität des Landes, die Sanierung der Volkswirtschaft und die Kontakte mit dem Osten und der SCO kümmert.
"Wenn die Türkei nicht in der Lage sein wird, ihre territoriale Integrität zu gewährleisten und die Wirtschaftskrise zu überwinden, wird sie vollständig den Vereinigten Staaten untergeordnet und angesichts ihren Bedrohungen machtlos sein", sagte Perinçek in einem Interview mit dem Autor.
"Um diese Gefahren zu überwinden, ist es notwendig, die Abhängigkeit der Türkei von den Vereinigten Staaten zu beenden: gegen die FETÖ und die PKK zu kämpfen, Amerikaner aus dem Stützpunkt Incirlik rauszuwerfen, aus der NATO auszusteigen, Mitglied in der SCO zu werden, sich Russland anzunähern, die Beziehungen zu Syrien zu normalisieren und seinen Präsidenten Baschar al-Assad anzuerkennen. Trotz einiger Signale Richtung Moskau laviert Erdoğan immer noch zwischen Ost und West", glaubt der Experte. Wie es um die anderen Kandidaten angeht, so seien alle mit Ausnahme des Vatan-Vorsitzenden Dogu Perinçek prowestlich eingestellt.
"Wenn man İnce und Akşener betrachtet, bekräftigen beide ihre Loyalität zum westlichen Lager und der NATO. In der Wirtschaft befürworten sie die Liberalisierung. Auf der anderen Seite haben sie kein klares Programm gegen FETÖ, und was noch schlimmer ist, sie stehen für die politische Zusammenarbeit mit dem politischen Flügel der PKK, die von den Vereinigten Staaten gefördert wird und die Aufteilung der Türkei plant – mit der HDP", fasst Perinçek zusammen.
Fazit
Die aktuellen Umfragen - prozentual und politisch - geben Anlass, den Sieg des populärsten türkischen Politikers – Erdoğan – vorherzusagen. Anders als seine Rivalen hat der Präsident etwas vorzuweisen: die Erfolge an den Außengrenzen. Man darf auch die Europaskepsis der Türken, von denen die meisten nicht mehr der EU beitreten wollen, nicht unterschätzen. Bei allem Populismus des jetzigen Präsidenten – seine These von der "belagerten Festung", die den Wunsch der USA widerspiegelt, sich die Türkei unterzuordnen, hat eine gewisse Berechtigung. Die Situation im Parlament, wo AKP und MHP möglicherweise nicht genug Stimmen erhalten werden, um zu gewinnen, ist etwas komplizierter. In diesem Fall wird Erdoğan Neuwahlen ankündigen.
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