von Ulrich Heyden, Moskau
Am 2. Mai 2014 verbrannten und erstickten im Gewerkschaftshaus von Odessa mehrere Dutzend Menschen. Weitere starben auch nach ihrem Sprung aus dem Fenster. Ein ultranationalistischer Mob hat das Gebäude mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt – der Film "Lauffeuer" zeichnet die Ereignisse nach. Über einen Seiteneingang war der Mob zudem mit Knüppeln in das Gebäude gestürmt und hatte Jagd auf Regierungskritiker gemacht, die in Büros Schutz gesucht hatten.
Insgesamt 42 Menschen starben in und vor dem Gewerkschaftshaus, 210 Menschen wurden verletzt. Juri Tkatschow, der Chefredakteur des örtlichen Internetportals Timer, hat 98 Krankenakten gelesen. Aus diesen gehe hervor, dass mehrere Personen Kopfverletzungen aufwiesen, die von harten und stumpfen, aber auch scharfen Gegenständen herrührten, schreibt der Journalist.
Aus den zahlreichen Videos, die am Ort der Tragödie aufgenommen wurden, geht hervor, dass viele der Schwerverletzten noch vor dem Abtransport in Krankenhäuser von den rechtsextremen Schlägern bedroht wurden.
Ein Video zeigt auch, wie auf einen Menschen eingeschlagen wird, der sich gerade erst mit einem Sprung ins Freie aus dem brennenden Gebäude gerettet hatte.
Nach der offiziellen Version starben die 42 Menschen in Odessa am 2. Mai 2014 jedoch nicht an den Folgen von Schlägen, sondern ausschließlich an Rauchvergiftungen und an Verletzungen, die sie sich durch Sprünge aus höheren Etagen zugezogen hatten.
Opfer werden zu Tätern gemacht
Vier Jahre nach dem furchtbaren Ereignis von Odessa, welches weltweit Schlagzeilen machte, könnte man eigentlich erwarten, dass die ukrainischen Behörden einen abschließenden Untersuchungsbericht veröffentlicht sowie Brandstifter und Schläger vor Gericht gestellt haben. Doch nichts dergleichen ist passiert. Anfangs sei noch aktiv ermittelt worden, berichtet Timer, doch dann seien die Ermittlungen fast zum Stillstand gekommen.
Über die Ergebnisse der staatlichen Ermittlungen ist zudem nicht viel bekannt. Aus den bislang veröffentlichten Stellungnahmen der Ermittlungsbehörden geht hervor, dass der Brand im Gewerkschaftshaus mit brennenden Barrikaden vor dem Gebäude begann. Doch wer diese Barrikaden, welche die Regierungsgegner aufgebaut hatten, angesteckt hatte, darüber schweigen die Ermittlungsbehörden bis heute.
Als Schuldige an dem Brand im Gewerkschaftshaus selbst nennen die Behörden die Regierungsgegner selbst. Doch nur eine einzige angeblich schuldige Person wurde bislang namentlich genannt. Es handelt sich um den bereits verstorbenen Abgeordneten des Gebietsrates von Odessa, Wjatscheslaw Markin. Seine angebliche Schuld: Er habe die Regierungsgegner, die vor dem Gewerkschaftshaus ein Zeltlager errichtet hatten, dazu aufgefordert, ins Gewerkschaftsaus zu gehen.
Das "Vorspiel" zum Brand im Gewerkschaftshaus
Um den Brand im Gewerkschaftshaus richtig zu beurteilen, ist es nötig, sich das gesamte Geschehen am 2. Mai 2014 in Odessa anzusehen.
Aus Kiew und Charkow waren an jenem Tag Sonderzüge mit Maidan-Aktivisten in Odessa angekommen. Offiziell wollten alle Neuankömmlinge zu einem Fußballspiel. Doch die Anti-Maidan-Kräfte in Odessa fürchteten, dass die Maidan-Aktivisten am Rande des Spiels eine Attacke auf das Kulikow-Feld vor dem Gewerkschaftshaus starten könnten, wo sich ein Zeltlager von Regierungskritikern befand.
Auf dem Kathedralen-Platz hatten sich zur Mittagszeit 2.000 örtliche und zugereiste Maidan-Anhänger sowie Fußballfans versammelt. Viele der Maidan-Aktivisten waren mit Helmen, Schildern und Knüppeln ausgerüstet. Als sich die 2.000 in Richtung Fußballplatz in Bewegung setzten, stellten sich ihnen 500 Anti-Maidan-Aktivisten in den Weg. Am Griechischen Platz begann eine Straßenschlacht, in deren Verlauf sechs Menschen, darunter zwei Maidan-Anhänger und vier Regierungskritiker, durch Schüsse getötet wurden. Die Polizei war nur mit 200 Mann vor Ort präsent und deshalb machtlos. Die gesamte Polizeiführung tagte noch, während auf der Straße die Auseinandersetzungen noch im Gange waren. Die Handys der Polizeiführer waren auf Befehl abgeschaltet worden.
Wer erschoss den ersten Demonstranten?
Wer den ersten Toten, den Maidan-Anhänger Igor Iwanow, auf dem Gewissen hat, ist umstritten. Nach einer Version war der Regierungsgegner Vitali Botsman Budko der Täter. Doch Botsman, der mit einem einer Kalaschnikow ähnlichen Gewehr geschossen haben soll, erklärte, er habe lediglich mit Übungspatronen geschossen, die auf eine Distanz vom mehr als eineinhalb Metern völlig ungefährlich seien. Nach Meinung von Dmitri Futschedschi, am 2. Mai Leiter der Polizei von Odessa, saß ein unbekannter Schütze auf dem Dach des Hotels "Passage". Dieser habe geschossen, um den Konflikt anzuheizen.
Was die Straßenschlacht anbelangt, ermittelten die ukrainischen Justizorgane vor allem in Richtung Anti-Maidan. Nicht weniger als 19 junge Männer aus diesem Spektrum saßen für dreieinhalb Jahre in Haft, ohne dass die Gerichte in Odessa ihnen jemals Straftaten nachweisen hätten können. Weder Videos noch Zeugenaussagen gaben Stichhaltiges an Beweisen für relevantes Fehlverhalten her. Am 18. September 2017 mussten die 19 Anti-Maidan-Aktivisten freigelassen und ihre Unschuld anerkannt werden. Zwei der Freigelassenen wurden jedoch erneut verhaftet, diesmal wegen des Vorwurfs des Separatismus.
Die deutschen Leitmedien vernebeln die politischen Hintergründe
Wie unterschiedlich aber auch das Empfinden in Deutschland und im russischen Sprachraum ist! Während viele regierungskritische Ukrainer und sehr viele Menschen in Russland meinen, in Odessa habe es am 2. Mai 2014 ein Pogrom gegeben und nicht wenige Menschen aus dem russischen Sprachraum sich explizit "wegen Odessa" als Freiwillige für die Milizen der international nicht anerkannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk gemeldet haben, blieb das Thema als solches von den deutschen Leitmedien in den letzten zwei Jahren komplett ausgeblendet.
Es ist aufschlussreich, sich noch einmal die Berichterstattung deutscher Leitmedien am 2. und 3. Mai 2014 über Odessa vor Augen zu führen. Einige deutsche Leitmedien hatten am Tag des Pogroms noch recht sachlich über den Brand im Gewerkschaftshaus berichtet. Die vom offiziellen Kiew vertretene Position, der zufolge es ein Erfolg war, dass "die Besetzung" eines Gebäudes in Odessa durch "russische Kräfte" von "ukrainischen Patrioten" verhindert wurde, übernahmen die deutschen Leitmedien nicht sofort oder gar ungeprüft. Auch wurde am 2. und 3. Mai 2014 noch nicht verschwiegen, dass es vor allem ukrainische Regierungskritiker waren, die in Odessa den Tod fanden.
So berichtete der Korrespondent des ZDF, Torge Bode, in der Nacht vom 2. auf den 3. April 2014, "prorussische Demonstranten" hätten sich nach Angriffen von "Kiew-treuen Demonstranten" in das Gewerkschaftshaus von Odessa geflüchtet, worauf die "Kiew-treuen Demonstranten" das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails bewarfen. "Es kam zum Brand. 31 Tote", berichtete Bode.
Spiegel Online-Korrespondent Benjamin Bidder schrieb in seinem Bericht vom 3. Mai 2014:
Die Polizei tat nichts, um den Hass zu bremsen. Die Sicherheitskräfte sahen weitgehend tatenlos zu, wie sich die Gewalt in Odessa durchsetzte. Als die Einheiten der Sonderpolizei doch noch zum Gewerkschaftshaus vorrückten, brannte das Gebäude bereits lichterloh." Weiter schreibt Bidder: "Verstörend ist die Sprache, die Behörden und Medien angesichts der Katastrophe wählen. Während in Odessa Menschen verbrannten, meldeten ukrainische Medien geradezu triumphierend, 'Patrioten' hätten 'die Separatisten zurückgeschlagen'. Man sei dabei, sie erfolgreich 'auszuräuchern'.
Doch das Eingeständnis, dass vor allem "pro-russische Demonstranten" Opfer waren und massenhaft getötet wurden, verschwand in den folgenden Wochen und Monaten vollständig aus den deutschen Leitmedien. An die Stelle von selbst ermittelten Fakten und dem Versuch, die Ereignisse aufzuklären, traten Berichte, die keine Fragen stellten und die politische Brisanz des Brandes im Gewerkschaftshaus vernebelten.
Anstatt nach politischen Hintergründen zu suchen, begnügten sich deutsche Korrespondentinnen und Korrespondenten mit der Beschreibung eines traurigen Ereignisses, zu dem es angeblich gekommen war, weil zwei verfeindete Gruppen aufeinandertrafen. Den von Kiewer Medien verstreuten Nebelkerzen, nach denen sich "Russen" in das Gewerkschaftshaus geflüchtet hatten, widersprachen die deutschen Leitmedien nicht. Dabei wurde in Odessa schnell bekannt, dass unter den Opfern im Gewerkschaftshaus kein einziger Ausländer war.
Die Schlüsselfragen von Odessa bis heute unbeantwortet
Die Schlüsselfragen von Odessa wurden von den deutschen Leitmedien bis heute nicht behandelt. Mehrere davon tauchen auch in dem im November 2015 veröffentlichten, äußerst kritischen Bericht des Europarates auf. Dort lauten diese etwa:
- Warum wurde die gesamte Polizeiführung von Odessa am Nachmittag des 2. Mai 2014 - als am Griechischen Platz eine Straßenschlacht zwischen Pro- und Anti-Maidan-Anhängern tobte - zu einer Besprechung gerufen, während der die Teilnehmer ihre Handys ausschalten mussten?
- Warum dauerte es vom ersten Notruf bis zum Eintreffen der Feuerwehr 38 Minuten, obwohl sich die Feuerwache nur 500 Meter vom Brandort entfernt befand?
- Warum erklärte die Staatsanwaltschaft von Odessa während des Brandes, "Regierungsanhänger säuberten das Gewerkschaftshaus von russischen Terroristen"?
- Warum wurden erregte Anrufe, die den Brand meldeten, von der Telefonzentrale der Feuerwehr abgewimmelt, wie aus einem Telefonmitschnitt hervorgeht? Die Beamtin wollte partout nicht verstehen, dass es nicht vor dem Gewerkschaftshaus, sondern in dem Gebäude brennt.
- Warum stand das Gewerkschaftshaus nach dem Brand noch wochenlang offen, anstatt das Gebäude für die Spurensicherung sofort zu versiegeln?
- Warum konnte der Rechte Sektor den Brand ungestraft als Tat gegen "russisches Ungeziefer" bejubeln? Warum konnte Julia Timoschenko am 3. Mai 2014 unwidersprochen erklären, in Odessa sei die "Besetzung" eines administrativen Gebäudes durch "russische Kräfte" verhindert worden?
- Warum war Andrei Parubij, der Kommandant des Maidan in Kiew, am 30. April in Odessa? Nur um öffentlichkeitswirksam schusssichere Westen an Maidan-Anhänger auszugeben?
- War es das Ziel des Angriffs auf das Gewerkschaftshaus, der starken Russland-freundlichen Bewegung in Odessa einen Schlag zu versetzen, von dem diese sich jahrelang nicht erholen würde?
Einschüchterungsversuche gegen Trauerkundgebung am 2. Mai 2018
Immer wenn der 2. Mai in Odessa naht, macht sich Nervosität in der südukrainischen Stadt breit. In den vergangenen Jahren wurde am Jahrestag des Pogroms gegen Regierungskritiker vor dem Gewerkschaftshaus demonstrativ Militärtechnik aufgefahren. Dieses Jahr patrouillieren, wie Fotos auf Timer zeigen, schwer bewaffnete und maskierte Männer mit automatischen Gewehren und Schäferhunden durch die Stadt.
Am 2. Mai 2018 um 18 Uhr haben die bekannten rechtsradikalen und faschistischen Organisationen Rechter Sektor bzw. Nationale Bürgerwehr und die Partei Swoboda zu einem Marsch unter dem Motto "Tag der ukrainischen Ordnung" aufgerufen. In dem Aufruf zu dem Marsch heißt es, am 2. Mai 2014 hätten "hunderte bewaffnete prorussische Verbrecher unter dem Schutz der Polizei versucht, in Odessa ein Donezk-Lugansk-Szenario umzusetzen". Doch der "entschiedene Widerstand der patriotischen Menschen von Odessa" sei "zum entscheidenden Faktor nicht nur für den Süden der Ukraine, sondern für den ganzen Staat geworden". Dieser Widerstand habe Tausende von Menschenleben gerettet und die "ukrainische Ordnung in Odessa begründet".
Mit aller Macht versucht man zudem, die Einwohner der Stadt davon abzuhalten, sich an der genehmigten Trauerkundgebung am 2. Mai 2018 um 15 Uhr auf dem Kulikow-Feld, dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus, zu beteiligen. Da die Zahl der Trauernden jedes Jahr mehr als tausend Menschen beträgt, wurden in der Vergangenheit auch bereits genehmigte Gedenkveranstaltungen von der Polizei wieder abgesagt. Es gab auch anonyme Bombenwarnungen, die zum Anlass genommen wurden, die Trauerkundgebungen auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus zu untersagen. Doch die Trauernden lassen sich nicht einschüchtern und versammeln sich trotzdem immer wieder, auch wenn es nur am Rande des Kulikow-Platzes ist.
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