Am Dienstag erklärte das bei Salisbury gelegene britische Chemiewaffenlabor Porton Down, es könne nicht bestätigen, dass das nach bisherigem Ermittlungsstand Anfang März gegen Sergej Skripal und dessen Tochter Julia eingesetzte Nervengift namens Nowitschok aus Russland stammt. Der Laborchef Gary Aitkenhead erklärte dazu gegenüber Sky News:
Wir konnten es als Nowitschok, als ein militärisches Nervengas identifizieren. Wir konnten die genaue Quelle nicht identifizieren. Aber wir haben der Regierung die wissenschaftlichen Informationen zur Verfügung gestellt, die dann eine Reihe anderer Quellen benutzt hat, um zu ihrer Schlussfolgerung zu gelangen.
Mit dem letzten Satz hält Aitkenhead der britischen Regierung eine Hintertür offen, durch die sie schreiten kann, um weiterhin Moskau zu beschuldigen, selbst wenn die eigenen Chemiewaffenexperten eine entsprechende Spur nicht bestätigen können – denn da gäbe es ja noch diese "andere Quellen", die selbstverständlich der Öffentlichkeit verborgen bleiben.
Doch dieses durchsichtige Manöver wird wohl keine Früchte tragen. Denn der britische Außenminister Boris Johnson hatte sich vor zwei Wochen in einem Interview mit der Deutschen Welle explizit auf die Experten in Porton Down berufen, als er danach gefragt wurde, wie er zu der Überzeugung kam, dass das Nervengift aus Russland stammt. Diese hätten sich dazu "absolut eindeutig" geäußert und "keine Zweifel" gehabt, so Johnson.
Mehr zum Thema - Russland konfrontiert London mit 14 Fragen zum "fabrizierten" Skripal-Fall
Angesichts dieser nachweislichen Falschaussage werden nun bereits erste Rücktrittsforderungen aus der Opposition gegenüber dem Minister laut. Diane Abbott, Innenministerin im Labour-Schattenkabinett, erklärte dazu:
Boris Johnson hat mit eigenen Worten behauptet, er habe eine eindeutige Zusicherung von Porton Down, dass das Nervengift aus Russland stammt. Das wurde heute als falsch entlarvt.
Schärfer äußerte sich der Labour-Politiker Chris Furlong:
Außenminister Boris Johnson lügt, wenn er sagt, Porton Down habe ihm gesagt, dass Russland die Quelle des Nervengiftes ist. Heute haben sie [Porton Down] bestätigt, dass sie die Quelle nicht identifizieren können. Das ist eine eklatante und gefährliche Lüge. Wann werden Sie ihn entlassen, Theresa May?
Schuldzuweisung ohne Beweise: Berlin macht mit
Das britische Außenministerin übt sich derweil in Vorwärtsverteidigung und hält ungeachtet der Falschaussagen ihres Chefdiplomaten und der Erkenntnisse der Chemiewaffenexperten an ihrer Schuldzuweisung fest – und behauptet gleichzeitig in aller Dreistigkeit, niemals behauptet zu haben, dass das verwendete Nervengas aus Russland stammt. In einer Stellungnahme des Ministeriums heißt es zu der Russland entlastenden Aussage der Wissenschaftler aus Porton Down, deren Erkenntnisse seien "nur ein Teil eines geheimdienstlichen Lagebildes". Weiter teilte das Ministerium mit:
Unserer Einschätzung nach ist Russland für diese dreiste und rücksichtslose Tat verantwortlich, und die internationale Gemeinschaft stimmt zu, dass es keine andere plausible Erklärung gibt.
Doch die "internationale Gemeinschaft" besteht in diesem Fall aus nicht mehr als jenen rund zwei Dutzend Staaten, die wie Deutschland dem Beispiel Großbritanniens folgten und trotz fehlender Beweise für eine Schuld Moskaus russische Diplomaten auswiesen.
In einer gemeinsamen Erklärung hatten Berlin, Paris und Washington behauptet, der gegen Skripal eingesetzte Nervenkampfstoff sei "von Russland entwickelt" worden. Darin war gar die Rede von einem "Nowitschok-Programm", das Russland betreibe und nun gegenüber der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) offenlegen müsse. In einem ZDF-Interview sprach auch die Bundeskanzlerin von einem "Chemiewaffenprogramm" der Russen, das Moskau gegenüber der OPCW bekannt machen müsse.
Mehr zum Thema - Russische Analysten: Westen steuert die Welt mit Skripal-Fall auf Kuba-Krise 2.0 zu
Ohne jedwede Belege unterstellt Angela Merkel Russland damit, im Geheimen Chemiewaffen zu entwickeln. Auch die EU forderte Moskau auf, sein "Nowitschok-Programm" offenzulegen und mit der OPCW zu kooperieren.
Boris Johnson gesteht: Briten besitzen Nowitschok
Doch wie soll Moskau etwas offenlegen, was es nicht gibt? Der russische OPCW-Vertreter Viktor Kholstow wies vor zwei Woche darauf hin, dass Russland keinerlei giftige Substanzen außer jenen hergestellt hat, die es bereits im Jahr 1997 im Rahmen der Chemiewaffenkonvention offengelegt hatte.
Folglich haben wir keine derartigen Waffen in unseren Lagerbeständen. Russland hat alle seine Chemikalienbestände deklariert, die anschließend von Experten des Technischen Sekretariats der OPCW inspiziert wurden, und deren Inspektionsteams auch die Vernichtung der russischen Chemiewaffen überprüften", so Kholstow.
Russland hatte im Zuge des Programms zur Vernichtung von Chemiewaffen im Herbst 2017 vorzeitig seine letzten Bestände vernichtet. Die USA wollen im Jahr 2023 nachziehen.
Während es keinerlei Beweise dafür gibt, dass Russland überhaupt noch im Besitz des von der Sowjetunion entwickelten Nowitschoks ist – geschweige denn im Besitz des gegen Skripal eingesetzten Nervengifts – lässt sich Gleiches über die Briten nicht sagen. Denn die Experten in Porton Down konnten das eingesetzte Gift nur als Nowitschok identifizieren, weil sie selbst im Besitz entsprechender Vergleichsproben sind. Das gestand Boris Johnson in dem oben genannten Interview mit der Deutschen Welle ein.
Und auch die Amerikaner dürften im Besitz des Nervengiftes sein. Immerhin berichtete die New York Times bereits im Mai 1999, dass die USA und die Ex-Sowjetrepublik Usbekistan eine Vereinbarung getroffen hatten, laut der die Amerikaner bei der Abwicklung der "Nukus"-Anlage, eine der größten sowjetischen Chemiewaffen-Produktionsstätten, behilflich sein sollten:
Laut sowjetischen Überläufern und US-Beamten war Nukus das wichtigste Forschungs- und Testgelände für eine neue Klasse geheimer, äußerst tödlicher Chemiewaffen namens 'Nowitschok'.
Und viele weitere Staaten besitzen den Kampfstoff oder sind zumindest in der Lage, diesen zu synthetisieren. Das behauptet zumindest Israels Premierminister Benjamin Netanjahu unter Berufung auf Geheimdienstberichte. Demnach gebe es mindestens 20 Länder, die den Kampfstoff besitzen oder herstellen.
Iranische Wissenschaftler hatten vor zwei Jahren verschiedene Nowitschok-Varianten in Kooperation mit der OPCW hergestellt. Seitdem wird das Nervengift in der Datenbank der Organisation aufgeführt. London war also von Anbeginn klar, dass der Nachweis von Nowitschok nicht gleichzusetzen ist mit einem Beleg für einen russischen Ursprung.
Amerikaner und Briten wollten keine Debatte über Nowitschok
Im Übrigen war es nicht Russland, sondern die USA und Großbritannien, die verhinderten, dass Nowitschok schon viel früher von der OPCW als Chemiewaffe gelistet wurde. Das geht aus von WikiLeaks veröffentlichten Depeschen der US-Botschaft hervor, auf die das Politblog Moon of Alabama aufmerksam machte.
Hintergrund ist die Veröffentlichung des Buches State Secrets: An Insider's Chronicle of the Russian Chemical Weapons Program von Wil Mirsajanow im Jahr 2008. Der in den 1990er Jahren in die USA ausgewanderte Mirsajanow hatte in der Sowjetunion an der Entwicklung von Nowitschok mitgearbeitet und in seinem Buch die bis dahin streng geheime Formel des Nervengiftes veröffentlicht.
Mehr zum Thema - Skripal und die Fake-News: Was der Nowitschok-Entwickler wirklich gesagt hat
Daraufhin erteilte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton ihren Diplomaten und den US-Vertretern der "Australische Gruppe" eine Weisung, wie diese darauf zu reagieren hätten, sollte Mirsajanows Buch thematisiert werden. Die "Australische Gruppe" ist laut Eigendarstellung "ein informelles Forum von Ländern, das durch die Harmonisierung von Exportkontrollen danach strebt, sicherzustellen, dass Exporte nicht zu der Entwicklung von chemischen oder biologischen Waffen beitragen". Dem Gremium gehören vor allem NATO- und EU-Staaten an sowie einige anderer Länder wie Mexiko oder die Ukraine.
In Clintons Schreiben heißt es:
- Melden Sie alle Vorfälle, bei denen das Buch zur Sprache kommt
- Beginnen oder provozieren Sie keine Diskussion über das Buch oder beteiligen sich substanziell an einer Debatte, wenn es zu Sprache kommt
- Machen Sie deutlich, dass Sie mit dem Thema nicht vertraut sind
- Bereiten Sie unterschwellig einer Diskussion ein Ende, indem Sie vorschlagen, dass das Thema 'am besten den Experten in den Hauptstädten' überlassen wird
Aus einer weiteren Depesche geht hervor, dass neben den US-Vertretern auch die Briten die Debatte um Nowitschok zu verhindern suchten. So heißt es in einer Mitteilung der niederländischen US-Botschaft, die britische Vertreterin der "Australischen Gruppe" habe – nachdem sie von einem kanadischen Delegierten auf Mirsajanows Nowitschok-Enthüllungen angesprochen worden sei – gesagt, sie habe von dem Buch "gehört", Nowitschok sei ihr aber kein Begriff, und außerdem sollte die "gesamte Diskussion [...] den Experten in der Hauptstadt überlassen werden". Auf gut Deutsch: Sie hat sich dumm gestellt.
Zudem geht aus dem als geheim eingestuften Schreiben hervor, dass der britische Verteidigungsminister seinen niederländischen und finnischen Amtskollegen dazu aufforderte, ihre Mitarbeiter anzuweisen, das Thema zukünftig nicht zur Sprache zu bringen. Außerdem enthält die Depesche Vorschläge, wie damit umgegangen werden soll, falls die Angelegenheit bei OPCW-Sitzungen angesprochen wird.
Mehr zum Thema - Putin: OPCW-Treffen könnte antirussischer Kampagne ein Ende setzen
Die Bemühungen der Amerikaner und Briten, die Sache unter den Teppich zu kehren, verliefen erfolgreich, wie Moon of Alabama herausstreicht:
Der Bericht der US-Delegation nach dem Treffen der Australischen Gruppe erwähnt weder 'Nowitschok' noch das Buch (von Mirsajanow). Das Problem kam nicht auf den Tisch.
Dies wirft jedoch einige Fragen auf: Was hat die Amerikaner und Briten bewogen, das Thema "Nowitschok" aus den dafür zuständigen internationalen Gremien herauszuhalten, damit es nicht auf die OPCW-Liste der Chemiewaffen gesetzt wird? Wollten sie etwa keine schlafenden Hunde wecken, damit nicht auch andere Staaten außer ihnen selbst in den Besitz des tödlichen Nervengiftes gelangen? Warum weigern sich die Briten, in der Skripal-Affäre die vorgesehenen OPCW-Richtlinien zu befolgen? Warum mussten erst die Iraner kommen, damit Nowitschok in die OPCW-Liste aufgenommen wird?
Der Fall Skripal und das "Trump-Dossier"
Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Hillary Clinton, die als damalige US-Chefdiplomatin verantwortlich ist für das Unter-den-Teppich-Kehren? Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass ihr Name in der Skripal-Affäre fällt.
Clintons Wahlkampfteam hatte den Briten Christopher Steele damit beauftragt, das berühmt-berüchtigte Fake-Dossier über Donald Trump zu erstellen, Clintons damaligen Rivalen um das Präsidentschaftsamt. Auf der Grundlage dieses Dossiers ordnete das FBI die Überwachung von Mitarbeitern des Trump-Teams an.
Steele war zwischen 2006 und 2009 der Abteilungsleiter für Russland im britischen Auslandsgeheimdienst MI6. Er leitete die Ermittlungen im Mordfall Litwinenko, für den Russland trotz fehlender Beweise von London verantwortlich gemacht wird. Die Nachdenkseiten gingen kürzlich den Machenschaften Steeles näher auf den Grund:
2009 verließ Steele den MI6 und gründete seine eigene private 'Sicherheitsfirma' mit dem Namen 'Orbis Business Intelligence'. Das Haupttätigkeitsfeld von Orbis war (und ist) es, Vorwürfe gegen Russland zu fabrizieren. Orbis war es, die von einem 'privaten Kunden' den Auftrag erhielt, im Rahmen des so genannten Project Charlemagne (Projekt Karl der Große) den angeblichen Eingriff Russlands in den Wahlkampf von Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland zu 'belegen'. Falschmeldungen über russische Troll-Armeen, die russische Finanzierung von Le Pen, Berlusconi und der AfD und angebliche Pläne Moskaus, die EU zu zerstören, stammen allesamt von Orbis und wurden von Medien und Politik willfährig weitergegeben.
Für Orbis ist auch der britische Ex-Agent Pablo Miller tätig. Jener Mann, der Sergej Skripal einst für den britischen Geheimdienst anwarb und aus ihm einen Doppelagenten machte. Miller hielt bis zu dem Anschlag in Salisbury regelmäßig Kontakt zu Skripal. Beide wohnten nicht nur in derselben Kleinstadt, Miller leitete in Salisbury auch das Orbis-Büro – wie aus seinem inzwischen gelöschten LinkedIn-Profil hervorging.
Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray geht davon aus, dass Skripal selbst wohl auch für Orbis tätig war und möglicherweise auch an dem "Trump-Dossier" mitgewirkt hat. Die Nachdenkseiten schreiben dazu:
Halten wir also als Fakt fest: Skripal hat sich regelmäßig mit seinem ehemaligen Führungsoffizier getroffen, der für das Unternehmen tätig ist, das eine Art Marktführer in Sachen Anti-Putin-Propaganda ist. Das ist doch eine interessante Sache. Warum liest man davon in den deutschen Medien nichts?
Mehr zum Thema - Lawrow: Im Kalten Krieg gab es Regeln – jetzt haben USA und Briten alle Anstandsregeln aufgegeben