Im Fall des vermeintlichen Giftanschlags auf den früheren russischen Spion Sergej Skripal und dessen Tochter Julia stagniert die Aufklärung. Die britische Polizei und Scotland Yard haben noch immer kein schlüssiges Bild vom Tathergang. Lediglich die "Tatwaffe" soll identifiziert sein: ein für Kampfeinsätze entwickeltes Nervengas mit dem russischen Namen Nowitschok, auf deutsch "Neuankömmling".
Die Experten des nahe am Tatort gelegenen britischen Chemiewaffenlabors Porton Down brauchten nur eine Woche, um das Nervengift zu identifizieren. Seit dem 16. März untersucht auch die Internationale Organisation zum Verbot von Chemiewaffen (OPCW) die Substanz. Sie erklärte, mindestens zwei bis drei Wochen für das Testverfahren zu benötigen.
Keine der bisherigen Hypothesen zum Tathergang ist stichhaltig
Richter Williams vom Obersten Gerichtshof Großbritanniens hat unterdessen am 22. März angeordnet, neue Blutproben von Sergej Skripal und dessen Tochter zu nehmen und diese an die OPCW zu übergeben. Diese hatte beantragt, DNA-Proben zum Vergleich mit den bisherigen Blutproben zu nehmen, um sicherzustellen, dass diese tatsächlich von den Skripals stammen. Die Blutproben von Porton Down sollen erneut getestet werden. Auch die Krankenakten der Patienten müssen überprüft werden.
Über den Tathergang selbst hat die britische Polizei in den letzten Tagen mehrere Hypothesen veröffentlicht: Gift an der Türklinke des Hauses, an der Klinke der Autotür oder im Belüftungssystem, in Kosmetikutensilien der Tochter oder in einem Geschenk. Oder es kam per Post. Alle wurden kurz danach wieder verworfen, denn keine ist schlüssig haltbar.
Mehr zum Thema - Fall Skripal: Ex-Spion kam vermutlich zu Hause mit Nervengift in Kontakt
Diese Hypothesen müssen als bewusst gelegte falsche Fährten bewertet werden, weil sie bei Kenntnis der Nowitschok-Substanz nicht denkbar sind. Die englische Polizei muss das wissen. Angesichts des bisherigen hermetischen Schweigens sind diese Theorien als Gesten gegenüber der auf Ergebnisse wartenden Bevölkerung zu bewerten.
Wissenswertes über Nowitschok
Laut Angaben des in Frankreich arbeitenden internationalen Experten für die Kontrolle chemischer und biologischer Waffen, Ralf Trapp, hat das in Rede stehende Nervengift besondere Eigenschaften.
Die Nowitschok-Nervenkampfstoffe werden erst wirksam, wenn zwei Komponenten miteinander gemischt werden. Das macht ihren getrennten Transport ungefährlich, erfordert jedoch spezifische technische Apparate, um das Material zu mischen und dann hermetisch verschlossen aufzubewahren. Das wirksam gemachte Gift muss dann schnell eingesetzt werden, denn es verliert "nach kurzer Zeit" wieder seine Wirkung.
Mit dem Vermischen der Komponenten entsteht eine viskoseartige Flüssigkeit, die auch mit einem Spray-Gerät versprüht werden könnte. Doch solch ein Gerät müsste extra dafür gefertigt sein - eine Art kleinformatiger Sprüh-Pistole für Nowitschok, eine chemische Waffe, die es nur im militärischen Bereich geben könnte. Diese Waffe ist bisher auf der Welt nicht bekannt.
Einige Wissenschaftler sprechen auch von einem feinen weißen Pulver, das nach der Mischung entstehen kann. Dieses könnte auf Oberflächen angebracht werden, genauso wie die genannte Flüssigkeit. Doch in jedem der geschilderten Fälle bleibt das Gift in der Umwelt nur kurze Zeit aktiv. Personen, die es anwenden wollen, benötigen einen Schutzanzug, weil sie sonst selbst vergiftet werden.
Wenn man sich die verschiedenen Hypothesen der Polizei bildlich vorzustellen versucht, muss man das berücksichtigen. Doch dann werden die Theorien unbrauchbar.
Chronologie des Tattages widerspricht Polizei-Thesen
Was aber haben Sergej und Julia Skripal an dem besagten Sonntag gemacht? Zwischen 13.30 Uhr und 14.55 Uhr fuhren sie mit ihrem BMW durch Salisbury. Dies belegen die am 16. März veröffentlichten Videos der britischen Daily Mail. Anschließend besuchten sie einen Pub und ein Restaurant, das sie gegen 16 Uhr verließen. Auf einem Foto sieht man Vater und Tochter entspannt miteinander am Tisch sitzen. Nichts in ihren Gesichtern deutet auf ein Unwohlsein hin.
Sergej und Julia Skripal haben demnach mehrere Stunden ihr Haus und das Auto verlassen, ohne Symptome einer Vergiftung zu zeigen. Das macht alle bisherigen Hypothesen der Polizei hinfällig, denn sie wären beim Kontakt mit dem Gift im Haus oder Auto sofort bewusstlos geworden oder höchstwahrscheinlich gestorben.
Mehr zum Thema - London als "City of Lies" - Warum Deutschland den Briten im Fall Skripal nicht folgen sollte
Nach dem Essen spazierten die Skripals in eine nahegelegene Parkanlage und setzten sich dort auf eine Bank. Wenn ein Nervengift gegen sie eingesetzt wurde, dann kann das nur dort gewesen sein. Theoretisch hätte hier der Angriff mit einer bislang unbekannten Sonderwaffe aus einem vorbeifahrenden Auto auf die Personen auf der Bank ausgeführt werden können - von jeweils mit Schutzanzügen bekleideten Tätern!
Obskurer Pkw tags zuvor in Militärwohnviertel versiegelt
In der Tat hat die Polizei am 15. März einen Personenkraftwagen in der Nähe des Militärstützpunktes Larkhill nahe Stonehenge mit Nylonfolien versiegelt und auf einem Schlepper abtransportiert. Die Bildunterschrift besagt, das das Gefährt in einem militärischen Wohngebiet vor Offizierswohnungen stand. Spätestens hier müssten die Alarmglocken schrillen.
Übrigens sind die Opfer von einem ranghohen Kripobeamten entdeckt worden, nicht von Passanten. Besagter Polizist wurde nach wenigen Tagen völlig gesund aus dem Krankenhaus entlassen. Nach einem Kontakt mit dem noch wirkungsaktiven tödlichen Nervengift hätte er jedoch ähnliche Symptome wie die Skripals gehabt haben müssen. In Unkenntnis der Gefahr hat er die Opfer sicher berührt, um ihnen zu helfen. Das Gleiche gilt für die Sanitäter des Rettungswagens. Eine Ärztin des Unfallwagens erläuterte gegenüber BBC, dass sie Frau Skripal fast 30 Minuten lang behandelt und keinerlei Anzeichen von chemischen Substanzen auf ihrem Gesicht oder Körper festgestellt habe. Weder die Ärztin noch das weitere medizinische Personal wiesen später ähnliche Symptome auf. Insgesamt sollen 131 Personen in Kontakt mit den giftverseuchten Skripals gestanden haben. Niemand wurde krank.
Die lokale Zeitung Salisbury Journal notierte am 5. März:
Der Notfalldienst vor Ort vermutet, dass die Substanz eine starke Droge namens Fentanyl gewesen sein könnte. Die lokalen Notfalldienste sind sicherlich mit solchen Drogen vertraut.
Es dürfen Rückschlüsse gezogen werden. Das Studium eines Blogbeitrages von Rob Slane über "20 weitere Fragen, die Journalisten zum Fall Skripal stellen sollten", kann dabei sehr nützlich sein.
Mehr zum Thema - Verstörende Akte von Selbstjustiz der Politik - Ein Kommentar von Frank Elbe zur Skripal-Affäre