SOEK-Leiter Henrich: EU braucht einheitlichen Wertekatalog statt Doppelstandards

Die EU-Expansionspläne auf dem Balkan gehen zu weit. Brüssel muss die Politik der doppelten Standards beenden. Ein friedliches Europa beruht auf Zusammenarbeit mit Russland und der Türkei. Dies sagt Dr. Johannes Henrich, Leiter des SOEK, im Gespräch mit RT Deutsch.

von Ali Özkök

Das Forschungszentrum Südosteuropa und Kaukasus (SOEK) wurde 2006 von Prof. Dr. Jürgen Bellers und Dr. Christian Johannes Henrich am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Siegen gegründet. Der Forschungsschwerpunkt des Forschungszentrums umfasst den Balkan, Thrakien, Anatolien und den Kaukasus.

Die EU hat dieses Jahr eine forcierte Initiative zur Integration des Westbalkans gestartet. Welche geopolitischen Erwägungen liegen dem Schritt zugrunde, Herr Henrich?

Der aus Österreich stammende Erweiterungskommissar Johannes Hahn schießt mit dieser Initiative deutlich über das Ziel hinaus. Womöglich hat er eine verklärt romantische Sichtweise auf den Balkan aus der Zeit der alten KuK-Monarchie. Die geopolitischen Hintergründe liegen klar auf der Hand. Man will den russischen, chinesischen und saudi-arabischen Aktivitäten auf dem Balkan Einhalt gebieten. Der Balkan ist quasi der Vorhof Europas. Früher wollte man schon das Osmanische Reich dort nicht akzeptieren und nun eben andere ambitionierte Großmächte nicht. Interessant ist, dass bei einer Westbalkan-Erweiterungsrunde mit Albanien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo erstmals drei Länder mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit Mitglied im bisher christlichen Klub Europa vertreten sein würden. Allein deshalb halte ich die Aufnahme letztlich für nicht sonderlich realistisch.

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Gibt es überhaupt eine sinnvolle Perspektive in einer wirtschaftlich gebeutelten EU, dass Länder wie Albanien, Mazedonien oder sogar Serbien in die EU aufgenommen werden können?

Aus meiner Sicht zumindest keine kurzfristige. Die letzten Erweiterungsrunden haben einerseits die EU überfordert, andererseits die Länder selbst. Explizit halte ich die Aufnahmen der osteuropäischen und südosteuropäischen Länder für einen Fehler. Dieser Schritt kam deutlich zu schnell nach der wiedererlangten nationalen Souveränität nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs. Die rechtsstaatlichen Entwicklungen in Polen und Ungarn, der Umgang mit Minderheiten in Rumänien und Bulgarien, der Korruption in der Slowakei und die Haltung der Visegrad-Gruppe in der Flüchtlingskrise sprechen eine deutliche Sprache.

Europa ist an einem Scheideweg und muss sich selbst wiederfinden. Die blinde transatlantische Abhängigkeit ist seit der US-Präsidentschaft von George Bush Junior bereits hinterfragt worden, seit der Präsidentschaft Donald Trumps hat nun auch der letzte Europäer erkannt, dass wir eigene Lösungen und Konzepte für die großen Herausforderungen dieser Zeit benötigen.

Die EU möchte, dass Serbien das Kosovo aufgibt. Unterdessen fallen von albanischer Seite in Tirana regelmäßig Aussagen, die an Ambitionen eines Groß-Albaniens erinnern lassen. Wie groß ist das Potenzial einer regionalen Eskalation?

Ich sehe derzeit kein gesteigertes Eskalationspotenzial. Diese angesprochenen Punkte begleiten uns konjunkturell bereits seit dem Ende des Jugoslawienkrieges. Die ehemaligen Kriegsparteien und die gesamte Region haben das Leid und die Folgen des Krieges nicht vergessen. Dies will bestimmt keiner mehr ein zweites Mal durchleben. Allerdings muss sich die EU ankreiden lassen, dass die Anerkennung des Kosovo ein strategischer Fehler war.

Die serbische Opposition wirft Präsident Vučić vor, ein von der EU geduldeter Autokrat zu sein, da er einen schleichenden europäischen Integrationskurs in Belgrad durchdrücke. Was sind Ihre Beobachtungen?

Die westliche Welt kennt sich zumindest mit geduldeten Autokraten aus. Im Arabischen Frühling haben sich die Menschen in der Maghreb-Zone gegen Diktatoren und Autokraten erhoben, die von den USA und deren Verbündeten teilweise installiert oder zumindest lange Zeit als treue Partner akzeptiert und hofiert wurden. Beispielsweise möchte ich Berlusconi und den libyschen Machthaber Gaddafi nennen. Ob Aleksandar Vučić ein solcher europäischer Vasall sein soll, kann ich abschließend nicht beurteilen, aber sein Gebaren passt zumindest ins Muster. Allerdings spielt Vučić auch gerne mal die russische oder chinesische Karte, dies wird der EU definitiv missfallen.

Offiziell ist die Türkei noch immer Anwärterin auf eine EU-Mitgliedschaft, doch zahlreiche Konflikte trübten das Verhältnis und führten dazu, dass auch die türkische Bevölkerung einer Mitgliedschaft ablehnend gegenübersteht. Könnte diese Entwicklung Konsequenzen für den türkischen Umgang mit der EU-Präsenz auf dem Balkan haben?

Wenn die Türkei und die EU nicht zusammenarbeiten, hat es grundsätzlich unerwünschte Konsequenzen für beide Seiten. Die jüngsten Ereignisse in den europäisch-türkischen Beziehungen haben dies eindrucksvoll unterstrichen. Die europäischen Kernländer verlieren die Bindung zu ihrer türkischstämmigen Bevölkerung. Teilweise kommt es zu einer regelrechten Entfremdung, die sich in einer verstärkten Auswanderung der gut integrierten, sowie hoch gebildeten dritten und vierten Generation in die Türkei ausdrückt. Die Türkei verlor jede Menge europäische Touristen, Geschäftspartner und Wissenschaftspartnerschaften.

Eine anhaltende negative Entwicklung wirkt sich zwangsläufig auf den Balkan aus. Unterschiedliche Interessen könnten zu weiteren Spannungen führen. Der ehemalige türkische Premierminister Davutoğlu sagte seinerzeit, dass die Türkei einem natürlichen kulturellen und politischen Führungsanspruch in den ehemaligen osmanischen Gebieten nachgehe, somit auch auf dem Balkan.

Die Türkei und Russland bauen gemeinsam die Pipeline Turkish Stream, um Südosteuropa mit Energie zu versorgen. Inwieweit kann das Projekt das Gleichgewicht in der Region verändern?

Ich sehe da derzeit keine erhöhte Gefahr. Aus meiner Sicht ist das eine rein wirtschaftspolitische Idee, die hinter dem Projekt steckt. In Europa wird der Wunsch nach sauberen Autos und erneuerbarer Energie immer lauter, und auch der politische Druck nimmt wie bei dem angedachten Dieselfahrverbot weiter zu. Für die Öl- und Gas exportierenden Länder sind demnach andere Absatzmärkte zukunftssicherer.

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Wurde auf dem Balkan mit der Zerschlagung Jugoslawiens in den 90er-Jahren angesichts der zahlreichen innen- und außenpolitischen sowie wirtschaftlichen Herausforderungen der neuen Republiken erst recht ein Vakuum von Staaten geschaffen, die eine externe Schutzmacht nötig haben, um stabil zu sein?

Auch wenn die Zerschlagung Jugoslawiens sicherlich forciert und der Zerfall beschleunigt wurde, kam der Wunsch nach ethnisch-nationaler Selbstbestimmung aus dem Innersten der einzelnen Volksgruppen. Es wäre also dauerhaft nicht zu verhindern gewesen. Die Notwendigkeit einer externen Schutzmacht sehe ich nicht. Die EU, Russland und die Türkei haben natürlich wirtschaftliche und geopolitische Interessen auf dem Balkan. Somit kann es für diese regionalen Akteure von Interesse sein, ein solches Gefühl zu erzeugen. Wir sollten auch die Interessen Chinas und Saudi-Arabiens in der Region nicht vernachlässigen. Deren Einfluss könnte gegebenfalls in Zukunft noch wachsen.

Traditionell sind Russland und die Türkei regionale Konkurrenten. Hat der Umgang Europas mit beiden Staaten am östlichen Rand Europas zwei neue regionale Verbündete geschaffen, die inzwischen Win-Win-Situationen befürworten?

Die dauerhafte außenpolitische Ausrichtung der Türkei ist und bleibt westlich. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, von Zeit zu Zeit befristete Bündnisse in bestimmten Regionen und bei bestimmten Fragestellungen einzugehen. Da Russland in der kurdisch beanspruchten Region um Afrin keine gesteigerten Interessen hat, konnte Russland und die Türkei hier eine Übereinkunft für die türkische "Operation Olivenzweig" erreichen. Zumindest wird es Moskau gefallen, dass dadurch die USA als stärkster Verbündeter der kurdischen Gruppen in dieser Region ordentlich Probleme bekommen haben. Langfristig verfolgt aber Putin eine Strategie zur Stützung Assads und Erdoğan zur Stürzung Assads. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Beziehungen beider Länder nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe im Jahr 2015 äußerst frostig waren. Putin machte Erdoğan persönlich für den Tod des russischen Piloten verantwortlich. Dieses Ereignis wird Putin auch nicht vergessen. Die derzeitige Kooperation ist ein Zweckbündnis und keine Liebesheirat. Da schätze ich die Gefahr eines Stellvertreterkrieges in Syrien oder dem Iran zwischen Russland und der Türkei in naher Zukunft als viel realistischer ein.

Kritiker sehen hinter der Maidan-Revolution in der Ukraine eine sogenannte Farbrevolution, die von westeuropäischen Staaten und den USA unterstützt wurde, um neuen Einfluss zu gewinnen. Lässt sich diese Entwicklung im Kern mit den Gezi-Protesten in der Türkei 2013 vergleichen?

Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob man die Euromaidan-Bewegung vom November 2013 überhaupt den Farbrevolutionen in den frühen 2000er-Jahren zurechnen kann. Die Ukraine war zu der Zeit bereits ein tief gespaltenes Land. In der westlichen Ukraine wurde ein Pro-EU-Kurs vertreten, in der Ost-Ukraine ein pro-russischer. Die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch Präsident Wiktor Janukowitsch hat bei vielen jungen pro-westlichen Menschen einfach das Fass zum Überlaufen gebracht. Dass so eine Entwicklung von westlichen Interessensgruppen oder auch Staaten genutzt und unterstützt werden könnte, halte ich zumindest für möglich bis wahrscheinlich.

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Genaue Erkenntnisse werden wir allerdings hierzu nicht bekommen. Der Gezi-Park-Protest ab Mai 2013 in Istanbul und später auch in anderen Städten weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Euromaidan auf. Auch hier wurden von der Regierung ausländische Agitatoren für die Proteste verantwortlich gemacht. Allerdings war auch die Türkei 2013 bereits in weiten Teilen gesellschaftlich gespalten.

Die alten, kemalistischen Eliten (auf Türkisch: "Beyaz Türkleri") stehen den neuen türkischen Kräften des AKP-nahen Umfelds unerbittlich gegenüber. In beiden Lagern kann man von gegenseitigem Hass sprechen, da die Lebens- und Gesellschaftsentwürfe unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Trennlinie geht oftmals durch Familien und sogar Ehen. Ich war bis Ende Juni 2013 in Istanbul vor Ort und habe den Protest vom ersten Tag an live mitbekommen.

Das ist für einen Türkei-Experten ein Geschenk, denn ich bin nachher nicht auf gefilterte Informationen und Propaganda angewiesen. Ich war Tag und Nacht auf der Straße, habe mit Demonstranten, Journalisten, Politikern und Polizisten gesprochen. Habe das Camp im Gezi-Park inspiziert und die Feldlager der Polizei. Es hat sich am Gezi-Park wegen des überharten Agierens der türkischen Sicherheitskräfte Ende Mai gegen 200 Umweltaktivisten über Facebook und Twitter eine Bewegung formiert, die einen tieferliegenden und grundlegenden Hass gegen die Regierung Erdoğan plötzlich nach außen getragen hat. Eine solche Abneigung gegen eine Regierung, die in Kiew und auch in Istanbul eine halbe Millionen Menschen auf die Straße treibt, kann nicht allein von ausländischen Agitatoren in ein paar Tagen oder Wochen angestachelt werden. In beiden Städten sind einfach Menschen nicht mehr bereit gewesen, den gegensätzlichen Kurs der Regierung mitzutragen.

Aber ich möchte betonen, wenn dann so eine Bewegung begonnen hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese auch wichtige materielle und immaterielle Unterstützung von ausländischen Akteuren und Organisationen bekommen. Für Außenstehende ist es oftmals sehr schwierig, in solchen Konflikten die Übersicht zu behalten. Solche Konflikte entwickeln sich äußerst dynamisch auf der emotionalen Ebene. Es kommt zu katastrophalen Fehleinschätzungen und Fehlern auf beiden Seiten der handelnden Personen. Pure Eskalation!

Die EU fordert von den EU-Aspiranten auf dem Balkan in einem Fact Sheet, dass kriminelle Strukturen auf dem Weg zum Mitglied unbedingt zerschlagen werden müssen. Zeitgleich fand in der Slowakei ein Journalistenmord statt, der eine tiefgreifende Korruption innerhalb des Politik-Establishment entlarven wollte. Operiert die EU mit doppelten Standards?

Ján Kuciak ist dabei nicht der erste ermordete Journalist innerhalb der EU, der mit korrupten Regierungen und den investigativen Enthüllungen in Zusammenhang steht. Im Oktober 2017 wurde auf Malta die regierungskritische Journalistin Daphne Caruana Galizia mit einer ferngesteuerten Autobombe ermordet. Natürlich spielt die EU ein doppeltes Spiel.

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Sei es beim EU-Beitrittsprozess der Türkei, denn hier werden regelmäßig zu den vereinbarten Kopenhagener Kriterien immer wieder neue Forderungen in die Verhandlungen eingebracht. Nahezu jeder Kritikpunkt der EU an der Türkei spielte bei der Aufnahme anderer EU-Mitgliedsstaaten keine Rolle. Die Aufnahme Zyperns in die EU ist ein Paradebeispiel für die Doppelstandards. Anstatt die Republik Zypern nur wiedervereinigt in die EU aufzunehmen, hat man den griechischen Nationalisten die Aufnahme des Südteils zugesagt. Das Kosovo wird von der EU in Windeseile anerkannt, die Türkische Republik Nordzypern allerdings nicht, das Baskenland nicht, Katalonien nicht und so weiter.

Aus meiner Sicht ist das der wichtigste Punkt, den die EU verändern muss. Keine Doppelstandards, sondern ein einheitlicher Wertekatalog, der für alle gilt, auch für die EU-Akteure selbst. Nur so kann das wichtige Projekt vereinigtes Europa weiter erfolgreich und friedlich vorangebracht werden. Zu diesem friedlichen Europa gehört selbstverständlich auch eine engere und vertrauensvollere Zusammenarbeit mit Russland und der Türkei. Für dieses Ziel müssen alle beteiligten Akteure alte Ressentiments über Bord werfen und offen aufeinander zugehen.