Ab 2020 sieht es für hunderttausende Schüler in der Ukraine, die bis dato noch auf Russisch unterrichtet werden, düster aus. Grund dafür ist, dass von diesem Zeitpunkt an der Unterricht ab der fünften Klasse auf Ukrainisch erfolgen muss. Andere Sprachen können dann nur noch im Fachunterricht erlernt werden. Ausgeschlossen von dieser Regelung sind zwar offizielle Sprachen der Europäischen Union – nicht aber die in der Ukraine millionenfach gesprochene russische Sprache. Damit, so meinen Kritiker, zielt die Kiewer Regierung bewusst auf die langfristige Liquidierung des Russischen in der Ukraine ab.
Bereits kurz nach dem Maidan-Umsturz im Februar 2014 leitete die neue ukrainische Führung einen Prozess der radikalen Entrussifizierung ein. Offizielle Statistiken des ukrainischen Bildungsministeriums zeigen, dass die Zahl der russischsprachigen Bildungseinrichtungen und die Anzahl ihrer Schüler in den Jahren danach drastisch gesunken sind. Gab es Anfang 2015 noch über 70.000 Kinder, die russischsprachige vorschulische Einrichtungen besuchten, waren es im Jahr danach fast 6.000 weniger.
Ukrainisierung als nationales Projekt seit Kutschma
Im selben Zeitraum sank die Zahl der Schüler, die Russisch im Fachunterricht erlernten, um ganze 63.400. Die Zahl jener Schüler, die fakultativen Russischunterricht besuchten, sank um rund 30 Prozent oder in absoluten Zahlen ausgedrückt um fast 30.000 - innerhalb nur eines Schuljahres. Langfristig gesehen sank der Prozentsatz der Schüler, deren Hauptunterrichtssprache - einschließlich anderer Fächer - Russisch ist, von etwa 50 Prozent im Bildungsjahr 1991/1992 auf nur noch knapp neun Prozent im Bildungsjahr 2015/2016.
Der Ausschuss für die Verteidigung der russischen Schulen in der Ukraine schrieb im September letzten Jahres einen verzweifelten Brief an die OECD. Darin appelliert die zivilgesellschaftliche Organisation an die internationale Gemeinschaft, etwas gegen die "Zwangsassimilation" ihrer Kinder zu unternehmen. Eine solche sei nämlich das eigentliche Ziel der ukrainischen Regierung.
Schon Leonid Kutschma, der zweite Präsident der unabhängigen Ukraine, hatte während seiner Amtszeit eine Politik der Ukrainisierung verfolgt. Eigens zu diesem Zweck schrieb er das Buch mit dem programmartigen Titel "Die Ukraine ist nicht Russland". Ihm ging es vor allem darum, im geistig leeren postsowjetischen Raum für sein junges Land eine eigenständige ukrainische Identität in Abgrenzung zur russischen zu konstruieren.
Die so genannte Orangene Revolution von 2004 führte zu einem zweiten Schub der Entrussifizierung der ukrainischen Kultur- und Medienlandschaft sowie des Bildungssystems. So mussten etwa nach 2004 russischsprachige Fernsehsendungen ukrainische Untertitel haben. Fernseh- und Radiosender, die auf Russisch senden wollten, mussten beweisen, dass sie ein überwiegend russischsprachiges Publikum haben.
Weitreichende Vorgaben auch für Radiosender
Doch die vorgegangenen Maßnahmen verblassen angesichts der Gründlichkeit, mit der die derzeitige ukrainische Regierung versucht, die ukrainische kulturelle Leben von russischen Einflüssen zu säubern. Im Mai vergangenen Jahres verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz, demzufolge im nationalen Rundfunk mindestens zu 75 Prozent auf Ukrainisch gesendet werden muss. Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine kann Ausnahmen bewilligen, wenn keine Bedrohung der nationalen Sicherheit vorliegt. Offenbar sind sämtliche russischsprachigen Bürger für den ukrainischen Staat potenzielle Gefährder.
Bis spätestens November dieses Jahres sind außerdem alle ukrainischen Radiosender dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass mindestens 35 Prozent der von ihnen gespielten Musiktitel auf Ukrainisch sind. Ausnahmen werden nur gewährt, wenn 60 Prozent der Titel insgesamt in offiziellen Sprachen der EU gehalten werden. Während also für Klein- und Kleinstsprachen wie etwa Irisch und Maltesisch vonseiten Kiews großzügig Sonderregelungen beschlossen werden, soll die Weltsprache Russisch, mit einem Einflussbereich von der ehemaligen innerdeutschen Grenze bis zum Pazifischen Ozean, aus dem öffentlichen Bewusstsein der Ukrainer verschwinden.
Nicht einmal die Feiertage bleiben von der kulturellen Säuberungsaktion Kiews verschont. Seit dem Jahr 2017 wird in der Ukraine Weihnachten zweimal gefeiert: Einmal am traditionellen orthodoxen Feiertag, dem 7. Januar - dem 25. Dezember nach dem alten Julianischen Kalender -, davor aber auch am 25. Dezember nach dem Gregorianischen Kalender, wie ihn die westeuropäischen Christen befolgen, und das, obwohl auch die meisten Katholiken in der Ukraine Weihnachten am 7. Januar feiern.
Bürger sorgen sich um chaotische Entwicklung
Der 2. Mai, früher in der Sowjetunion und in Russland bis 2005 ein Feiertag, wurde dagegen aus dem offiziellen Kalendarium gestrichen. Man gewinnt den Eindruck, die ukrainische Regierung könnte ihren Bürgern demnächst auch verbieten, das Sonnenlicht zu genießen – schließlich scheint die verräterische Sonne auch über Russland.
Derweil bewegen die Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger ganz andere Sorgen. Umfragen zufolge stimmen 85 Prozent der Ukrainer der Aussage zu, ihr Land befinde sich im Chaos, und 75 Prozent denken, dass es zerfällt. Sogar 78 Prozent der Wähler der Präsidentenpartei "Block Petro Poroschenko" sehen die Lage in der Ukraine als chaotisch an. Nur 21 Prozent der ukrainischen Bürger meinen, dass sich ihr Land in positiver Weise entwickelt. Von den rosigen Versprechungen des Februar-Umsturzes von 2014 ist nicht viel übrig geblieben. Drakonische Sprachdekrete sind anscheinend der einzige Ausweg, der der jetzigen ukrainischen Führung angesichts dieses Scherbenhaufens einfällt.