Am 2. Januar war es erst elf Tage her, seit die US-Regierung bekannt gegeben hatte, künftig US-amerikanischen Lieferungen von tödlichen Waffen an die Ukraine nicht mehr im Wege zu stehen. Für den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Atlantic Councils, den Schweden Anders Aslund, reichte das anscheinend aus, um über den angeblich nachhaltigen Effekt dieser Meldung zu posaunen. So verkündete der Ökonom und langjährige Berater russischer und ukrainischer Politiker via Twitter:
Die russische militärische Aggression gegen die Ukraine ist allem Anschein nach deutlich zurückgegangen, nachdem die USA am 22. Dezember ihre künftigen Waffenlieferungen angekündigt hatten. Es scheint zu funktionieren.
Seine Einschätzung haben die ukrainischen Medien sofort aufgegriffen. Für sie ist Anders Aslund kein Unbekannter. Er gehört zum auserwählten Kreis der "Freunde der Ukraine", welcher die US-Regierung seit Jahr und Tag mit Konzepten zur Ukraine-Politik beliefert. Seine Kolumne für den Atlantic Council findet regelmäßig ihren Weg auf das Online-Portal der ukrainischen jungen liberalen Eliten, Novoje Vremja (Neue Zeiten), das diese in russischer und ukrainischer Übersetzung veröffentlicht.
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Klimkin sieht hingegen "eskalationsbereite" Russen
Das ukrainische Außenamt scheint allerdings nicht zum Wirkungskreis seiner Analyse zu gehören. So sagte der Außenminister Pawlo Klimkin am 3. Januar auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel, Russland sei bereit zur weiteren militärischen Eskalation, insbesondere vor den Präsidentschaftswahlen im März 2018. Er sicherte aber dem deutschen Außenminister zu, dass neue Waffen nur Verteidigungszwecken dienen sollten:
Diese Waffen können und werden im Falle von Provokationen vonseiten Russlands und der von ihm unterstützten Terroristen benutzt. Wie Sie verstehen, werden wir sie nicht bei Angriffshandlungen anwenden, deswegen können sie nicht für das Argument herhalten, sie könnten zur Erhöhung der Temperatur in dem Konflikt beitragen", sagte er laut Interfax-Ukraina.
Beide Behauptungen - Russland werde durch die US-Waffenlieferungen entweder "aggressiver" oder eben genau umgekehrt zurückhaltender -, entbehren jedoch jedweder Aussagekraft. Immerhin gibt es bis heute keine stichhaltigen Beweise für ein unmittelbares militärisches Engagement im Gebiet der Aufständischen vonseiten Russlands überhaupt. Im Laufe des Konflikts erhob die ukrainische Seite immer wieder abenteuerlich anmutende Behauptungen über die Anzahl und Dichte der angeblich im Osten des Landes stationierten russischen Truppen.
Was ist aus den "200.000 russischen Invasionssoldaten" geworden?
Den diesbezüglichen Höhepunkt lieferte am 30. Juni 2015 der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, als er im Interview mit der italienischen Zeitung "Corriere della Sera" erklärt hatte, die Anzahl russischer Soldaten in der Ukraine, die sich dort "auf Befehl Putins" aufhalten, liege bei 200.000. Deren Arsenal werde ständig durch Panzer, Luftabwehr und reaktive Raketenwerfer Systeme gefüllt, sagte er weiter. Der ukrainische Generalstab ging allerdings im gleichen Zeitraum von 5.000 bis 40.000 Kämpfern der Volkswehr allein im Gebiet der selbsterklärten Volksrepublik Donezk aus.
Bei so viel Fantasie aufseiten so hoher Amtsträger sollte es nicht verwundern, dass auch bei den Experten das Wunschdenken über die Faktenlage triumphiert. Oder ist der Ökonom und Buchautor Anders Aslund einfach nur Opfer einer mangelhaften Berichterstattung? Er scheint offenbar über den Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien im Ukraine-Konflikt – den ukrainischen Streitkräften und der aufständischen Volkswehr der Donbass-Republiken - einfach nichts gewusst zu haben. Der Waffenstillstand - ein politischer und humanitärer Schritt, der bereits Wochen zuvor ausgehandelt worden war – trat am 23. Dezember in Kraft. Seitdem ist die Zahl der Waffenruheverletzungen auf beiden Seiten deutlich zurückgegangen.
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Treffsicherer Prognostiker
Der Ökonom Anders Aslund fungiert seit mehreren Jahrzehnten als ausgewiesener Russland-Experte. Er gilt als einer der Architekten und intellektuellen Wegbereiter der Sanktionen gegen russische hohe Beamte und Teile der Wirtschaftselite. Bereits im Jahr 2004 ging er vom baldigen Sturz des "Systems Putin" aus. Seine diesbezügliche Prognose wiederholte er 2010. Im Jahr 2009 schrieb der Experte von russischem Unvermögen, auf die Ukraine Einfluss zu nehmen, im Jahr 2014 waren es hingegen bereits "eiserne Umarmungen eines neoimperialistischen Russlands", die die Ukraine im Griff hielten.
In der jüngsten russischen Geschichte spielte Aslund selbst eine unmittelbare Rolle, als er zum engen Beraterkreis des liberalen russischen Premierministers Jegor Gaidar und Verbindungsmann zur so genannten Experten-Clique aus Harvard Anfang der 1990er aufstieg. Andere Experten wie der russisch-amerikanische Historiker Wladislaw Krasnow (Jg. 1937), der seit Mitte der 1960er in den USA lebt und zurzeit die Washingtoner Gesellschaft für Russisch-Amerikanische Freundschaft leitet, schätzen die Rolle westlicher Kuratoren vom Schlage Aslunds sehr kritisch ein. Noch im Jahre 2008 schrieb er einen ausführlichen Artikel dazu, den er mit folgenden Sätzen abschloss:
Das Haupthindernis, das einem schnellerem Wachstum der Wirtschaft und einer Stärkung der Demokratie in Russland im Wege steht, ist das bittere Gefühl bei der Mehrheit der Russen, dass die Privatisierung unehrlich und betrügerisch durchgeführt wurde. Leider wurde dies von solchen überheblichen Selbstgefälligkeitsgeistern aus dem Westen wie Aslund angestiftet und ermutigt - besessen von der Anmaßung, sprich "edlen" Mission, die jeweiligen "Eingeborenen", sei es im Irak, in Äquatorialguinea oder in Russland, in den Stall der Globalisierung hineinzujagen.
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"Alles sehr kompliziert"
Nach seinem Engagement bei der russischen Regierung, das 1994 zu Ende ging, zog es Aslund nach Kirgisien und in die Ukraine, wo er seither in zahlreichen Beratungsgremien aktiv ist. Einer der Schwerpunkte seiner Arbeit liegt zurzeit auf der Privatisierung der ukrainischen Wirtschaft. Der Experte mit 17.000 Followern bei Twitter fühlt sich aber auch zu Statements zu allgemeineren Themen als nur Russland oder der Ukraine berufen. Dem bereits angesprochenen Tweet vom 2. Januar folgte ein weiterer:
Das Jahr 2018 startete am Montag. Es wird schwierig…