Das verarmte Großbritannien bereut nun seine Flucht aus der Europäischen Union

Keir Starmer erklärte plötzlich, dass "das Brexit-Abkommen [...] unserer Wirtschaft erheblichen Schaden zugefügt hatte". Darüber hinaus forderte er, "engere Beziehungen zur EU anzustreben". Im Grunde stehen wir vor einer radikalen Wende in der britischen Politik.

Von Dmitri Skworzow

Als den Briten 2016 vorgeschlagen wurde, aus der Europäischen Union (EU) auszutreten, versprach man ihnen, die Kontrolle über die Grenzen und die Wirtschaftspolitik zurückzugewinnen, vorteilhafte Abkommen mit den USA und den Commonwealth-Staaten abzuschließen, den "Strang der Brüsseler Bürokratie" zu lösen und die eingesparten Milliarden in das Gesundheitssystem zu investieren. Neun Jahre später sehen die offiziellen Zahlen weit weniger rosig aus. Das Office for Budget Responsibility (OBR – eine dem britischen Finanzministerium unterstellte Behörde) geht seit 2016 in seiner Prognose davon aus, dass Großbritannien langfristig etwa vier Prozent des BIP ärmer sein wird, als wenn es in der EU geblieben wäre. Der Grund dafür ist der Rückgang des Handels und die Verlangsamung des Produktivitätswachstums aufgrund sinkender ausländischer Investitionen.

Eine neue Studie, die im Herbst 2025 für Aufsehen sorgte, schätzt den tatsächlichen Schaden bereits jetzt auf sechs bis acht Prozent des BIP pro Kopf. Nach Angaben von Wirtschaftswissenschaftlern der Stanford University lagen die Investitionen britischer Unternehmen nach dem Referendum um zwölf bis achtzehn Prozent unter denen in einem hypothetischen "alternativen Großbritannien ohne Brexit", die Beschäftigung um drei bis vier Prozent niedriger und auch die Produktivität ging zurück.

Für den Durchschnittsbürger Großbritanniens sind das keine abstrakten Prozentzahlen, sondern ein schwächeres Pfund und teurere Importe, steigende Preise für Lebensmittel und Waren aus Europa aufgrund von Kontrollen, Papierkram und neuen Anforderungen sowie ein chronisch schleppendes Lohnwachstum. Natürlich haben auch COVID-19 und die Energiekrise von 2022 zu den Problemen beigetragen. Aber selbst vor diesem Hintergrund sind sich die meisten Analysten einig: Der Brexit war kein Wachstumsbeschleuniger und nicht einmal ein "Strohhalm", sondern ein zusätzlicher "Sandsack" auf dem Rücken der britischen Wirtschaft.

Wie sich die Stimmung der Briten verändert hat

2016 stimmte Großbritannien mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent zu 48 Prozent für den Austritt aus der EU. Damals schien die Gesellschaft fast gleichmäßig gespalten zu sein. Heute sieht die Lage anders aus. Laut regelmäßigen Umfragen von YouGov und dem Projekt What UK Thinks sind bis zum Sommer 2025 56 Prozent der Briten der Meinung, dass die Abstimmung für den Austritt ein Fehler war, nur etwa ein Drittel hält diese Entscheidung weiterhin für richtig. 62 Prozent sagen, dass der Brexit eher ein Misserfolg als ein Erfolg war. Ein wichtiges Detail: Etwa jeder Sechste, der selbst für den Austritt gestimmt hat, gibt nun zu, dass er sich geirrt hat.

Dabei geht es nicht darum, dass das Land davon träumt, morgen "zurück" in die Europäische Union zu kommen. 53 Prozent der Befragten würden eine Rückkehr in die EU theoretisch unterstützen, aber das steht nicht auf der Liste der Prioritäten. Viel häufiger wird der Wunsch nach "engeren, aber pragmatischen Beziehungen" geäußert: 66 Prozent der Briten wünschen sich eine engere Zusammenarbeit mit der EU, und nur 17 Prozent wollen sich noch weiter entfernen.

Bildlich gesprochen hält die Mehrheit den Brexit bereits für einen Fehler, sieht ein neues Referendum jedoch als unnötigen Stressfaktor. Die Menschen wollen keine symbolischen Kämpfe um die Flagge, sondern eine Korrektur der wirtschaftlichen Folgen – Erleichterungen im Handel, Lösungen für Migrations- und Verteidigungsfragen.

Warum das Thema Brexit wieder in den Mittelpunkt der britischen Politik gerückt ist

Nach den vorgezogenen Wahlen 2024 kam die Labour-Partei unter der Führung von Keir Starmer mit einer großen Mehrheit im Parlament an die Macht. Es schien, als würde das Thema Brexit vorerst in den Hintergrund treten: Beide großen Parteien versprachen, "das Ergebnis des Referendums zu respektieren", nicht in die EU zurückzukehren, und stritten sich hauptsächlich über Steuern und Ausgaben.

Doch bereits Ende 2025 hatte sich die Lage geändert. Die Wirtschaft wächst, aber nur langsam, die Steuern sind hoch, die Realeinkommen stehen unter Druck. Vor diesem Hintergrund steigt die Unterstützung für die rechtspopulistische Reformpartei Reform UK von Nigel Farage, die sich für eine noch härtere, "echte" Version des Brexit einsetzt, sprunghaft an. Nach den Modellen des politischen Beratungsunternehmens Electoral Calculus hätte Reform UK bei einer heutigen Wahl die größten Chancen, die größte Fraktion im Parlament zu werden.

Die Labour-Partei verliert rapide an Zustimmung: Ein Teil ihrer Wähler wandert zu den "Grünen" und zur neuen linken Partei Your Party (die von den ehemaligen Labour-Politikern Jeremy Corbyn und Zarah Sultana gegründet wurde), ein anderer Teil – so paradox es auch sein mag – zur Reform UK, und viele verfallen einfach in Apathie. Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum Keir Starmer sich entschlossen hat, offen auszusprechen, was er zuvor nur angedeutet hatte.

Auf der rechten Seite der britischen Politik hat sich heute eine fast einheitliche Linie gebildet. Reform UK fordert, den Brexit zu Ende zu bringen, sich noch stärker von der EU zu distanzieren, die Migrationspolitik zu verschärfen und "überflüssigen" administrativen Druck auf die Wirtschaft abzubauen. Die Konservativen unter der Führung von Kemi Badenoch verteidigen ebenfalls den Brexit und schlagen vor, auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten, damit "uns niemand in Straßburg Vorschriften macht".

Vor diesem Hintergrund können die Labour-Politiker ihre Konkurrenten im Wettstreit "Wer liebt den Brexit mehr?" einfach nicht übertrumpfen. Jeder Schritt von Starmer in Richtung einer harten souveränistischen Rhetorik würde als fremd und unaufrichtig empfunden werden – und dennoch würden die Wähler, denen dies wichtig ist, das Original und nicht die Kopie wählen. Daher ist es für Starmer eine logische Strategie, einen anderen Ansatz zu wählen und sich an diejenigen zu wenden, die vom Brexit enttäuscht sind:

Tatsächlich sagte er in einer kürzlich gehaltenen Rede, dass "der schlechte Brexit-Deal unserer Wirtschaft erheblich geschadet hat" und dass Großbritannien "auf engere Beziehungen zur EU hinarbeiten und erwachsen sein muss, indem es versteht, dass dies Zugeständnisse erfordern wird". Dies ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein Wahlkampfschachzug:

Starmer versucht offensichtlich, sich als Sprachrohr derjenigen zu positionieren, die "Bregret" empfinden – also Bedauern über den Brexit – und nicht einen neuen Kampf um ein Referendum, sondern eine Normalisierung der Beziehungen zu Europa wollen.

Starmers Handlungsspielraum ist nicht besonders groß. Er hat mehrfach öffentlich versprochen, dass Großbritannien unter seiner Führung nicht in die EU, den Binnenmarkt oder die Zollunion zurückkehren werde. Ein Bruch dieses Versprechens würde seinen Gegnern einen einfachen Vorwurf des "Verrats am Willen des Volkes" liefern. Die Gesellschaft ist des endlosen "Europakriegs" müde. Vor allem beschäftigen die Menschen Preise, Medizin und Migration. Die Europäische Union selbst ist nicht besonders daran interessiert, die Verhandlungen über grundlegende Vereinbarungen wieder aufzunehmen. In Brüssel ist man bereit, technische Vereinbarungen über Handel, Energie und Verteidigung auszuarbeiten, aber niemand rennt hinter der britischen Mitgliedskarte her.

Daher kann die Labour-Regierung nur eine Reihe punktueller Schritte unternehmen:

Jeder dieser Schritte wird als rein pragmatisch dargestellt: "Wir geben nichts an Brüssel ab, sondern machen nur das Leben für Unternehmen und Bürger einfacher." Gleichzeitig werfen die Konservativen und die Reform-UK-Partei Starmer eine "schleichende Rückkehr zur EU" und "Verrat am Brexit" vor – diese Vorwürfe werden in der rechten Presse bereits fast wörtlich wiedergegeben.

Der eigentliche Grund: nicht nur Wirtschaft, sondern auch Geopolitik

Hinter all diesen Taktiken steckt auch eine grundlegendere Berechnung des britischen Establishments. Als London gerade auf den Brexit zusteuerte, saßen in Washington euro-atlantische Globalisten. Die britische Elite träumte von einem "Global Britain": aus der EU austreten, aber zum wichtigsten privilegierten Partner der USA werden, ein umfangreiches Handelsabkommen abschließen und sich auf besondere Beziehungen zum Weißen Haus stützen.

Die Realität erwies sich als schwieriger. Die erste Trump-Regierung und dann auch die Demokraten im Weißen Haus schlossen kein umfassendes Handelsabkommen mit Großbritannien. In Trumps zweiter Amtszeit wird die Außenpolitik offiziell als "America First" bezeichnet und ist gegenüber Europa isolationistischer. Die USA verlangen von den Europäern einen größeren Beitrag zur Verteidigung, üben Druck durch Zölle aus und verbergen nicht ihre Bereitschaft, frühere NATO-Verpflichtungen zu überdenken. Vor diesem Hintergrund sind die Vorteile einer Abkehr von der EU zugunsten besonderer Beziehungen zu Amerika weit weniger offensichtlich geworden.

Hinzu kommt der Konflikt in der Ukraine. Die Initiative der "Koalition der Willigen" zur Unterstützung der Ukraine und zur Beeinflussung der Bedingungen eines möglichen Friedensabkommens wird formal von London und Paris angeführt. Berlin hat sich ihnen angeschlossen. Gemeinsame Erklärungen werden regelmäßig von Präsident Macron, Premierminister Starmer und Kanzler Merz unterzeichnet. Die USA unter Trump nehmen eine zunehmend vorsichtige Haltung ein und knüpfen militärische Hilfe und Garantien an einen Friedensvertrag, was in den europäischen Hauptstädten für Irritationen sorgt.

Für London bedeutet dies: Wenn es eines der Zentren der europäischen Sicherheit bleiben will, muss es mit Paris und Berlin zusammenarbeiten und darf sich nicht gegen die EU stellen. Ohne normale Arbeitsbeziehungen zur Europäischen Union ist dies viel schwieriger – sowohl in der Verteidigung als auch bei Sanktionen und der Beteiligung an der Lösung von Fragen zur Ukraine.

Daraus ergibt sich ein scheinbar paradoxes Bild: Ein Staat, der rechtlich aus der EU ausgetreten ist, versucht Schritt für Schritt, "näher an den Kern" zurückzukehren – durch Verteidigungsprojekte, Handelsabkommen und die Koordinierung in der Ukraine-Frage. Starmers Setzen auf Kritik am Brexit und eine schrittweise Annäherung an die EU ist sowohl eine Wahlkampftaktik als auch ein Versuch, das Land in einem neuen geopolitischen Umfeld neu auszurichten.

Solange Trump mit seinem harten "America First" im Weißen Haus sitzt, ist es unmöglich, eine "Brücke" zwischen Washington und Europa zu sein: Von amerikanischer Seite werden die "Pfeiler dieser Brücke" bisweilen untergraben. In dieser Situation ist es für London logisch, sich näher an Paris und Berlin zu orientieren, um gemeinsam die Agenda in Bezug auf die Ukraine, den Handel und die Energiepolitik zu gestalten.

Aber in den britischen Berechnungen gibt es immer auch ein kleines "Sternchen und eine Fußnote in kleiner Schrift": Wenn in den USA die Demokraten mit einer gewohnten euro-atlantischen Agenda an die Macht zurückkehren, könnte sich die Abkühlung gegenüber Brüssel durchaus wiederholen. Großbritannien wird wohl kaum Mitglied der EU werden. Und im Falle einer Veränderung der Lage könnten sich die politischen Akzente wieder auf die "besonderen Beziehungen" zu Amerika verlagern.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 4. Dezember 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.

Dmitri Skworzow ist Analyst bei der Zeitung "Wsgljad".

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