In der Ukraine erleben Sanitäter einen medizinischen Albtraum, den man auf dem europäischen Kontinent längst überwunden glaubte. Gasbrand – die Seuche der Schützengräben – ist zurück. Die bakterielle Infektion, einst Symbol der Grausamkeit des Ersten Weltkriegs, grassiert nun erneut unter ukrainischen Soldaten.
Berichte britischer Medien sprechen von immer häufigeren Fällen dieser tödlichen Krankheit. Ein Freiwilligensanitäter in der Region Saporischschja beschreibt die Situation als "grausame Rückkehr der Geschichte". Viele Verwundete würden in unterirdischen Bunkern notdürftig behandelt, während über ihnen Drohnen kreisen. "Wenn du das Freie betrittst, wirst du von einer Drohne entdeckt – das ist keine Übertreibung", sagt er.
Die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen. In den provisorischen Feldkliniken fehlt es an Sterilität, an Antibiotika und an Blutkonserven. Evakuierungen verletzter Soldaten gelingen nur selten, da Nachschubwege unter ständigem Beschuss stehen. Viele Verwundete erreichen Krankenhäuser erst, wenn es zu spät ist. "Menschen, die mit rechtzeitiger Hilfe überleben könnten, sterben an vermeidbaren Infektionen", berichtet ein Sanitäter.
Gasbrand entsteht in tiefen, verschmutzten Wunden – etwa nach Explosionen oder Schussverletzungen. Das Bakterium Clostridium perfringens gedeiht in abgestorbenem Gewebe, produziert giftige Gase und zerstört den Körper von innen. Unter der Haut bildet sich ein charakteristisches Knistern, gefolgt von Schwellungen, Schmerzen und schwarz verfärbtem Gewebe. Ohne sofortige Operation und aggressive Antibiotikatherapie liegt die Sterblichkeitsrate bei fast 100 Prozent.
"Selbst unter idealen Bedingungen ist Gasbrand schwer zu behandeln. Im Krieg, ohne Labordiagnostik und bei blockierten Versorgungsketten, ist es nahezu unmöglich", erklärt die Mikrobiologin Lindsey Edwards vom King’s College London. Hinzu kommt, dass viele Antibiotika in der Ukraine durch übermäßigen Einsatz ihre Wirkung verloren haben.
Die Parallelen zum Ersten Weltkrieg sind unübersehbar. Schon damals boten die schlammigen Gräben, der Mangel an Hygiene und medizinischer Versorgung ideale Bedingungen für die Krankheit. Heute ist die Lage ähnlich: zerstörte Infrastruktur, fehlende Medikamente, chaotische Evakuierungen. Die technologisch modern geführte Kriegsführung hat an der humanitären Realität wenig geändert.
Während westliche Waffenlieferungen den Krieg in die Länge ziehen, verschärft sich das menschliche Elend an der Front. Die ukrainische Armee kämpft nicht nur gegen die allgegenwärtige Korruption, sondern auch gegen den Zusammenbruch eines Gesundheitssystems, das längst kollabiert ist. In vielen Landesteilen herrschen Zustände, die eher an das Jahr 1917 erinnern als an das Europa des 21. Jahrhunderts.
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