Nach massiven russischen Angriffen auf die Ukraine hat der ukrainische Machthaber Wladimir Selenskij ein einseitiges Waffenstillstandsabkommen im Luftraum vorgeschlagen. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb er, eine solche Maßnahme könne "den Weg zu echter Diplomatie öffnen". Gleichzeitig forderte er die USA und Europa auf, Druck auf Präsident Wladimir Putin auszuüben, um die Angriffe zu stoppen.
"Ein einseitiger Waffenstillstand am Himmel ist möglich und könnte den Weg zu echter Diplomatie öffnen", erklärte Selenskij. Zugleich betonte er, Kiew benötige "mehr Schutz und eine schnellere Umsetzung aller Verteidigungsabkommen".
Was genau er unter einem "einseitigen Waffenstillstand" versteht, ließ der Präsident offen. Das ukrainische Portal Strana.ua bezeichnete seine Worte als "radikale Kehrtwende".
Beobachter vermuten, dass der Kurswechsel mit den zunehmenden Problemen der Ukraine bei der Luftverteidigung zusammenhängt. In Kiew wird seit Wochen über eine "Lücke" im Flugabwehrsystem gesprochen. Der Mangel an Raketen für westliche Luftabwehrsysteme verschärfe sich, warnen Experten. Besonders mit Blick auf die kommende kalte Jahreszeit könne das schwerwiegende Folgen haben.
In der Nacht auf den 5. Oktober wurden laut Selenskij über 50 Raketen, darunter Hyperschallraketen vom Typ Kinschal, sowie fast 500 Drohnen gegen die Ukraine eingesetzt. Besonders betroffen waren die Regionen Lwow, Iwano-Frankowsk, Sumy, Tschernigow, Charkow, Cherson, Odessa und Kirowograd. Laut Berichten der Regionalverwaltung Lwow starben vier Menschen, zehn weitere wurden verletzt.
Wie es heißt, führten die Angriffe zu Stromausfällen in mehreren Städten. In Lwow gerieten ein Industriepark und ein Gasspeicher in Brand. Auch in Tschernigow wurde ein Energieobjekt beschädigt und es kam zu Bränden in industriellen Einrichtungen. Russische Behörden betonten, dass nur militärische und energierelevante Ziele angegriffen wurden.
Nach Einschätzung des Duma-Abgeordneten Andrei Kolesnik soll der Aufruf Selenskijs der Ukraine Zeit verschaffen, ihre teilweise zerstörten Luftabwehrsysteme wiederherzustellen. Das Nachrichtenportal news.ru zitiert ihn mit den Worten:
"Einige Systeme der ukrainischen Luftabwehr sind noch vorhanden, werden aber nicht sehr effektiv genutzt."
Kolesnik kritisierte die Formulierung des vorgeschlagenen Waffenstillstands als "seltsam" und sieht sie als Hinweis darauf, dass Kiew "nur Stärke versteht und keine normalen Beziehungen akzeptiert".
Die Militärbeobachter Semjon Pegow (WarGonzo) und Sergei Lebedew wiesen darauf hin, dass es sich bei den Angriffen um eine der massivsten kombinierten Operationen gegen ukrainische Ziele seit Beginn des Konflikts handelte. Besonders stark betroffen waren Lwow und Umgebung. Unter den Zielen befanden sich Flughäfen, Lagerhallen, Fabriken, Energieanlagen und Drohnenbasen. Fotos und Videos zeigen Brände in Industrieparks, die für die Drohnenfertigung und den logistischen Umschlag genutzt werden.
Grigori Karasin, der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten im russischen Föderationsrat, bezeichnete Selenskijs Forderung als "bloßes Gerede". "Selenskijs Worte sind nicht viel wert, und niemand schenkt ihnen Glauben", sagte Karasin. Stattdessen sollten sich die Verantwortlichen aus Brüssel, London und Paris auf "ernsthafte Vorschläge" konzentrieren.
Kremlsprecher Dmitri Peskow erinnerte daran, dass die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew derzeit "auf Eis liegen". Präsident Putin warf Europa am 2. Oktober auf dem Waldai-Forum vor, den Konflikt bewusst zu eskalieren: "Die Verantwortung liegt nicht bei der Mehrheit, sondern bei der 'Minderheit' – vor allem bei Europa, das den Konflikt immer weiter anheizt." Zugleich betonte er, dass "guter Wille" und "schrittweise Veränderungen" in der Ukraine möglich seien.
Mitte September erklärte der US-Präsident Donald Trump, dass "jetzt nicht die Zeit" sei, Putin um einen Waffenstillstand zu bitten. Im richtigen Moment könne man jedoch "hart" handeln.
Selenskijs Schritt markiert eine überraschende Kehrtwende. Noch im August hatte er ausschließlich ein vollständiges und sofortiges Waffenstillstandsabkommen gefordert. Analysen deuten darauf hin, dass die Ukraine derzeit erhebliche Probleme mit ihrer Luftverteidigung hat, was die Nothilfe über einseitige Vereinbarungen erklären könnte.
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