Am Donnerstagmittag stürmten Mitglieder der großen französischen Eisenbahnergewerkschaft das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen in Paris. Kurz zuvor hatte der französische Innenminister Bruno Retailleau auf einer Pressekonferenz noch erklärt, dass die angekündigten Proteste gegen die Sozialkürzungen hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben seien. Ihm zufolge gebe es rund 230 Protestaktionen. Diese seien "weniger intensiv als erwartet", erklärte Retailleau.
In einem Live-Ticker berichtete France 24 am Donnerstag über die in ganz Frankreich stattfindenden Arbeitsniederlegungen, Verkehrsblockaden und vielfältigen Protestaktionen gegen die Sparpolitik der Regierung. Den Berichten zufolge, führten die Streiks zur Schließung der meisten Schulen im Pariser Bezirk. France 24 meldete, dass dort 23 von 24 Schulen aufgrund von Streiks geschlossen waren.
Laut der wichtigsten Gewerkschaft für Sekundarschullehrer, streikten 45 Prozent der Beschäftigten an Mittel- und Oberschulen in ganz Frankreich. "Diese großangelegte Mobilisierung der Sekundarschullehrer (…) spiegelt die tiefe Verärgerung über die Arbeitsbedingungen zu Beginn des Schuljahres, die Lohnkürzungen und die Untergrabung des öffentlichen Bildungswesens wider", erklärte die Lehrergewerkschaft SNES-FSU.
Die Demonstranten blockierten auch die Waffenfabrik Eurolinks in Marseille, weil diese Waffen nach Israel liefere. Vor der Fabrik hielten sie ein Transparent mit der Aufschrift "Schließt die Völkermordfabrik" hoch. Die investigative Nachrichtenagentur Disclose hatte im Juni veröffentlicht, dass das Unternehmen Ausrüstung an das israelische Unternehmen Elbit Systems geliefert habe.
Mit der "Operation Schnecke" verlangsamten Aktivisten den Verkehr auf französischen Autobahnen. Dabei kam der Verkehr auf den Autobahnen A57 und A50 im Südosten Frankreichs am Donnerstagmorgen komplett zum Erliegen.
In Paris schlossen sich Polizeibeamte den Demonstrationen an. Grégory Jouron, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Unité SGP Police, erklärte gegenüber France 24, wie auch die Polizei von Budgetkürzungen betroffen sei:
"Die Erneuerungspläne für unsere Einsatzfahrzeuge wurden auf Eis gelegt. Einige Autos haben 200.000 Kilometer auf dem Tacho. Infolgedessen war vor einigen Tagen in Aulnay-sous-Bois und Sevran jedes zweite Auto außer Betrieb. In solchen Fällen können wir Notrufe nicht schnell genug erreichen."
Angekündigt waren mehr als 250 Demonstrationen, Streiks und Protestaktionen. Aus Wut über drohende Haushaltskürzungen fordern Gewerkschaften aus verschiedenen Branchen mehr Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen, höhere Steuern für Reiche und die Rücknahme einer weitgehend abgelehnten Reform der staatlichen Rentenversicherung. Die vorherige Regierung unter Premierminister François Bayrou hatte Haushaltskürzungen in Höhe von rund 44 Milliarden Euro vorgeschlagen. Nach seinem Scheitern bei einem Misstrauensvotum wurde Sébastien Lecornu zum neuen französischen Premierminister ernannt. Aber viele Franzosen sehen unter Lecornu keinen Wechsel des Sparkurses.
Aus diesem Grund trugen hunderttausende Demonstranten am Donnerstag ihre Wut über zunehmende Armut, verschärfte Ungleichheit und wachsende Schwierigkeiten für Niedriglohnarbeiter auf die Straße. Sie wollen den Druck auf den neuen Premierminister Sébastien Lecornu zu erhöhen. France 24 zitierte die 22-jährige Studentin Juliette Martin:
"Wir wollen, dass unsere Stimmen gehört werden. Menschen in meinem Alter haben das Gefühl, dass niemand in der Politik für uns spricht […] es ist immer unsere Generation, die am Ende mit der Unsicherheit und den Schulden dasteht."
Der Gründer der linksradikalen Partei "La France insoumise" (LFI/"Unbeugsames Frankreich"), Jean-Luc Mélenchon, forderte nach den Protesten eine weitere Vertrauensabstimmung im Parlament. Mit Bezug auf die landesweiten Streiks und die soziale Protestbewegung erklärte er:
"Dies ist ein Ereignis, das ziemlich tiefgreifende politische Auswirkungen haben wird […] bringen wir es hinter uns: Sébastien Lecornu sollte vor der Nationalversammlung erscheinen und sich einem Vertrauensvotum stellen, wie es François Bayrou vor ihm getan hat."
Gleichzeitig forderte er auch den Rücktritt des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Mehr zum Thema – Politische Turbulenzen in der EU: Eine Analyse der Krisensituation