Von Gerhard Fuchs-Kittowski
Vor 35 Jahren unterzeichneten nach vier Verhandlungsmonaten die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Moskau gemeinsam mit den beiden deutschen Staaten BRD und DDR den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Damit beendeten sie 45 Jahre nach Kriegsende die Besatzungszeit über diese Gebiete einschließlich Berlins. Die beiden deutschen Staaten erhielten nationale Souveränität, sodass sie nach eigenem Ermessen eine Vertragsgemeinschaft oder staatliche Vereinigung bilden konnten.
Dieser Vertrag ist auch ein Friedensvertrag, denn zuallererst ist und wurde hiermit ein Krieg beendet, und zwar der Kalte Krieg. Es wurde mit Deutschland Frieden geschlossen. Denn in seinem Ergebnis sind dann bis 1994 die sowjetischen, heute würden wir sagen: russischen Truppen vollständig abgezogen worden. Übrigens nicht zum ersten Mal: Denn nach dem Siebenjährigen Krieg waren die zaristischen Truppen – also russische – auch bis zur Nordsee vorgedrungen. Man kann dies sehen: Um Oldenburg bis zur Nordsee gibt es sogar noch kleine Dörfer mit russischen Holzhäusern. Und auch die sind dann ohne Bedingungen wieder gegangen.
Allerdings legt der Zwei-plus-Vier-Vertrag dem damit neu entstehenden vereinten Deutschland dauerhafte Verpflichtungen auf, darunter die Endgültigkeit seiner Ostgrenze nach Polen und das Verbot jeglicher Anwesenheit ausländischen Militärs auf dem Gebiet der DDR. Überraschend war die sowjetische Zustimmung, dass das vereinte Deutschland Mitglied der NATO sein dürfe und dass die sowjetischen Besatzungstruppen bis 1994 aus der DDR abziehen würden, während die Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs in der BRD verbleiben durften, nun unter NATO-Flagge.
In Vorbereitung des Zwei-plus-Vier-Vertrag hatte im Februar 1990 der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow von westlichen, auch BRD-Regierungsmitgliedern die ehrenwörtliche Zusicherung erhalten, dass – über das DDR-Gebiet hinaus – die NATO nicht weiter nach Osten ausgedehnt würde. Und es floss BRD-Wirtschaftshilfe in die Sowjetunion.
Am späten Vorabend der Vertragsunterzeichnung in Moskau entstand noch eine Dramatik, als bekannt wurde, dass die USA und Großbritannien auf dem Gebiet der DDR Militärmanöver ausführen wollten. Dies konnte die Sowjetunion nicht akzeptieren, sodass der Vertragsabschluss am nächsten Tag in Frage stand. BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher löste das Problem, indem er zusammen mit seinen Mitarbeitern in der Nacht den US-Außenminister James Baker in dessen Hotel wecken ließ und in der berühmt gewordenen "Bademantelkonferenz" eine zusätzliche Protokollnotiz vereinbarte, die Vertragsteil wurde: Über ausländische militärische Nutzungen von DDR-Gebiet entscheidet die Regierung des – noch gar nicht existierenden – vereinten Deutschlands, wobei sie die Sicherheitsinteressen aller Vertragspartner berücksichtigt. Weil jeder der Vertragspartner seine Sicherheitsinteressen nur selbst bewerten kann, bedeutet die Protokollnotiz de facto ein Vetorecht gegen ausländische Militäranwesenheit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR für jeden Vertragspartner. Die Sowjetunion akzeptierte diese Zusatzregelung und unterzeichnete am nächsten Vormittag den Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Zerwürfnisse mit Russland, seit 1992 Rechtsnachfolger der Sowjetunion, entstanden dadurch, dass 1997 die Regierung des vereinten Deutschland im NATO-Rat das US-Vorhaben der NATO-Osterweiterung nicht – wie durch das Ehrenwort an Gorbatschow von 1990 erforderlich – durch seine Vetostimme widersprach, sondern dem US-Vorhaben zustimmte, sodass die NATO-Osterweiterung in mehreren Wellen erfolgte. Ein erster deutscher Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrags war 1999 durch die Teilnahme der Bundeswehr am US-geführten Jugoslawienkrieg erfolgt, der völkerrechtswidrig gewesen war.
Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 brach die deutsche Regierung vielfach den Zwei-plus-Vier-Vertrag, indem sie ohne russische Zustimmung Waffentransporte durch das Gebiet der ehemaligen DDR fließen ließ. Als die Bundesregierung 2024 ohne russische Zustimmung in Rostock ein NATO-orientiertes Marinekommando eröffnete, mit Dienstposten ausländischer Militärs, bestellte die russische Regierung den deutschen Botschafter in Moskau ein und übergab eine Beschwerde über diese offensichtliche Verletzung des Zwei-plus-Vier-Vertrags, verbunden mit der Ankündigung von Konsequenzen. Die Bundesregierung wies die Beschwerde zurück, mit einer Begründung, die dem Vertragstext widerspricht.
Ein massiver Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrags hat begonnen mit der Vorbereitung des "Operationsplans Deutschland"/ "Drehscheibe der NATO", der den Transit ausländischen Militärpersonals und -materials durch das Gebiet der ehemaligen DDR vorsieht.
In der sich zuspitzenden Spannungssituation in Europa ist dringend geboten, dass die Bundesregierung zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zurückkehrt, um die Sicherheit der Bevölkerung nicht zu gefährden. Es gibt auch zu denken, dass 2024 in Russland wegen des deutschen Verhaltens eine Diskussion über die Kündigung des Vertrags begonnen hat. Diese Vertragskündigung kann für die Lage Deutschlands schwersten Schaden zur Folge haben.
Ministerpräsidenten der östlichen Bundesländer angeschrieben
Durch den Untergang der DDR ist eine der Garantiemächte für den Erhalt des Vertrages verloren gegangen. Damit werden im Fall russischer Beschwerden über die deutsche Nichteinhaltung des Zwei-plus-Vier-Vertrags die Landesregierungen der Ex-DDR-Bundesländer die Adressaten. Diese Länder sind 1990 nicht einzeln, sondern als Gesamtstaat DDR der BRD beigetreten. Diese Klammer wurde niemals aufgelöst. Dadurch bilden diese fünf Landesregierungen in ihrer Gemeinschaft die heutige Rest-DDR mit ihren Pflichten aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Deshalb hat der Deutsche Friedensrat die Ministerpräsidenten der fünf Bundesländer, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entstanden seien, angeschrieben und auf die Einhaltung des Vertrages gepocht. Denn der Zwei-plus-Vier-Vertrag habe den Deutschen die Wiedervereinigung und die Souveränität gebracht, deshalb müsse er ihnen heilig sein.
Deshalb ist die Kommandozentrale an der Ostsee (wo auch NATO-Soldaten stationiert sind) nicht so harmlos, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius tut. Denn Deutschland darf sich zwar seine Bündniszugehörigkeit frei wählen, es dürften sich aber in Ostdeutschland, also dem Gebiet der ehemaligen DDR, keine NATO-Soldaten im dienstlichen Auftrag aufhalten. Insofern ist das eine bewusste Täuschung. Ebenso verhält es sich mit Truppentransporten über dieses Gebiet oder mit der Stationierung von Waffen. Auch die Panzerfabrik in Görlitz und die Ausbildung fremder Soldaten sind als Verstoß gegen den Vertrag zu werten.
In Anbetracht dieser Verstöße kann Deutschland der russischen Regierung noch dafür dankbar sein, dass sie Deutschland nicht den Krieg erklärt hat, denn die BRD sei mittlerweile Kriegspartei. Der Deutsche Friedensrat, dessen Vorsitzender ich derzeit bin, protestiert dagegen und fordert Frieden und Kooperation. Und dazu gehört eben auch, die Waffentransporte durch dieses Territorium zu stoppen. Es ist eine Frage von nationalem Interesse, dass Deutschland nicht in einen Krieg hineingezogen wird.
Dieser Friedensauftrag steht im Grundgesetz ebenso wie im Zwei-plus-Vier-Vertrag. Es handelt sich bei Letzterem nicht nur um einen Friedensvertrag, sondern auch um einen Schutz vor anderen Militärmächten. Deutschland schwingt die Moralkeule auf der Welt und verweist andere Länder auf eine wertebasierte Politik, hält sich aber selbst nicht an den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Die Bedingung für die Wiedervereinigung ist jedoch die Einhaltung dieses Vertrags.
Bei Vertragsverletzungen kann jeder der Alliierten von 1945 fordern, dass Deutschland diese Verstöße abstellt. Denn sollte Deutschland den Vertrag kündigen, fiele es auf den Status zur Zeit der Potsdamer Konferenz 1945 zurück, und dann könnten die Siegermächte wieder vieles in Deutschland übernehmen. Auch wenn in Bezug auf Russland keine Gefahr bestehe, dass es in Deutschland einmarschiere.
Wer vollzieht den Systemwechsel?
Leider wird heutzutage in der Presse kaum an diesen Grundlagenvertrag erinnert. Und diejenige, die darüber doch schreiben, missdeuten ihn massiv. So schreibt etwa die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF), der Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie die Charta von Paris hätten der internationalen Staatenwelt die Gewähr für Stabilität und ein geregeltes Miteinander gewährt. "Das Ende dieser Ordnung wurde mit dem Putinschen Systemwechsel auf gewaltsame Weise markiert", und es benötige Gegenwehr. Es werde dann erneute "Sternstunden der Diplomatie" brauchen, um eine stabile Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die der neuen Gefahrenlage gerecht wird.
Die Behauptung, dass Wladimir Putins angeblicher Systemwechel die Grundlagen des "geregelten Miteinanders" (man fragt sich, ob hier nicht etwa die ominöse "regelbasierte Ordnung" statt für alle verbindiches Völkerrecht gemeint ist) auf "gewaltsame Weise" markiere, ist auf verhöhnende Weise orwellisch. Man stelle die Frage: Wer lässt NATO-Truppen und Materialtransporte über die Ex-DDR zu und verstößt damit ebenfalls gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag? Wer bildet Kombattanten und Soldaten auf eigenem oder anderem NATO-Territorium aus – und verstößt damit nicht nur gegen diesen Vertrag, sondern auch gegen die UNO-Charta?
Ich muss jetzt hier nicht alle Verstöße aufzählen, die wir, der Westen, zu verantworten haben. Doch sei die Frage erlaubt, ob es nicht zu einem Systemwechsel auf unserer Seite gekommen ist. Weg von der KSZE, zum Beispiel eben dem Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, hin zur Politik der "Responsibility to protect" – einer Floskel, mit der man seit Anfang der 2000er-Jahre letztendlich jeden Krieg rechtfertigen kann.
Wenn wir den für uns wichtigsten und heiligsten Vertrag mit Füßen treten und ihn heute, wie in diesem FNF-Artikel, sogar in Frage stellen, dann frage ich: Wer vollzieht hier einen Systemwechsel, und warum? Deutschland kann froh sein, dass es seine Souveränität geschenkt bekommen hat, und wenn die einzige Bedingung dafür die Einhaltung des Zwei-plus-Vier-Vertrages ist, dann sollte die deutsche Regierung das gefälligst auch tun.
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