Von Felicitas Rabe
Die RT-Korrespondentin sprach am Freitag mit dem Amsterdamer Politikwissenschaftler Kees van der Pijl über den Rücktritt des PVV-Chefs Geert Wilders aus der niederländischen Regierungskoalition. Was waren seine Motive? Welche Folgen hat dies für die politische Situation in den Niederlanden?
RT: Warum ist der Anführer der niederländischen "Partei für die Freiheit" (PVV) am Mittwoch völlig überraschend zurückgetreten und hat damit die Regierungskoalition in den Niederlanden zum Platzen gebracht?
Van der Pijl: Dazu muss man als Erstes wissen, dass die niederländische Regierungsbildung im Mai 2024 einem Staatsstreich gleichkam. Dieser Staatsstreich ist vergleichbar mit dem, wie er zuletzt auch bei der Annullierung der Wahl des in Rumänien gewählten Calin Georgescu geschah, oder dem ebenfalls vergleichbaren Staatsstreich bei der strafrechtlichen Verurteilung der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen in Frankreich.
Bei der Regierungsbildung in den Niederlanden handelte es sich deshalb um einen Staatsstreich, weil nach der Regierungsbildung nicht der mehrheitlich gewählte Geert Wilders, sondern ein anderer Premierminister ins Amt gehoben wurde. Premierminister wurde der ehemalige Geheimdienstchef Dick Schoof. Schoof ist ein Fremdkörper in der Politik, ein Mann der Schattenmacht.
RT: Aber was genau hat Geert Wilders nun aktuell veranlasst, zurückzutreten?
Van der Pijl: Geert Wilders ist aus Opportunismus zurückgetreten. Er hat erkannt, wie unzufrieden die Bevölkerung in den Niederlanden mit der Situation im Land und mit der vor einem Jahr gebildeten Regierung ist. Die Bevölkerung fühlt sich von der Massenmigration überfordert. Deshalb hatte sie darauf gehofft, die rechtspopulistische Partei von Geert Wilders würde die weitere Migration in das kleine Land verringern oder aufhalten. Aber seit seiner Regierungsbeteiligung konnte Wilders keines seiner diesbezüglichen Wahlversprechen umsetzen. Wobei er sich in der Koalition auch nicht besonders für seine politischen Versprechen eingesetzt hat.
Bauernpartei nur gegründet, um kritische Bürger "abzufangen"
Aber als nun die Stimmung in der Bevölkerung immer mehr gegen die Regierung kippte, hat sich Wilders neue Chancen ausgerechnet. Er spekulierte, dass seine PVV bei einer Neuwahl noch mehr Stimmen bekommen würde. Die Koalitionsregierung aus den vier Parteien PVV (Partei für die Freiheit), VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie), NSC (Neuer Sozialvertrag) und BBB (Bauernpartei) bestand zuletzt sowieso fast nur noch theoretisch.
Die Bauernpartei BBB war, gesteuert von Kapitalinteressen, gegründet worden, um das kritische Unterstützungspotenzial der authentischen Bauernkämpfe in den Niederlanden einzufangen. Tatsächlich hat sich diese Partei nicht wirklich für die Interessen der Bauern eingesetzt. Nach aktuellen Meinungsumfragen spielt sie kaum noch eine Rolle. Entsprechendes gilt für die neue Partei NSC, die laut Umfragen ebenfalls kaum noch eine Rolle spielt.
Die NSC-Partei wurde von Pieter Omtzigt gegründet, einem ehemaligen Christdemokraten. Doch aufgrund psychischer Probleme war der Parteivorsitzende Omtzigt kaum in der Lage, Regierungsarbeit zu leisten, und war bereits im April zurückgetreten. Von den vier Parteien der ursprünglichen Regierungskoalition sind also zwei Parteien kaum noch aktiv. Und in der Kombination einer unzufriedenen Bevölkerung und einer dysfunktionalen Regierung sah der Opportunist Wilders jetzt eine Chance für noch mehr Popularität bei einer Neuwahl.
Entsprechend den Wählerstimmen hätte Wilders ja schon im Jahr 2024 Premierminister werden müssen. Aber er wurde zur Seite geschoben und ihm wurde klargemacht: "Du kannst nicht Premierminister werden, deine Beleidigungen gegenüber Arabern schädigen unseren Handel mit den Golfstaaten."
Landesweiter Widerstand gegen die Regierung: Niederlande gewähren Asyl für Algerier, der in Deutschland abgelehnt wurde
Schließlich hat Wilders nun den günstigsten Moment für seinen Rücktritt und das damit verbundene Scheitern der Koalition gewählt. Es verbreitete sich ein für die Situation typischer Fall eines algerischen jungen Mannes, der von Deutschland abgeschoben wurde und anschließend in den Niederlanden Asyl bekommen hat. Neben dem Mangel an rund 100.000 Wohnungen hat der Fall das Fass zum Überlaufen gebracht. Es erfolgte ein landesweiter Widerstand gegen die Regierung.
RT: Genießt Wilders in dieser Situation tatsächlich wieder eine große Popularität in der Bevölkerung?
Van der Pijl: Die Reaktionen der Bürger waren nicht unbedingt pro Wilders. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen alles nur noch für ein großes Theater halten. Zu dem Theater gehört auch die angebliche Bedrohung durch einen imaginären Überfall Russlands und die damit begründete Kriegsvorbereitung.
Die Zeitungen in den Niederlanden sind voll davon. Endlos hetzen sie gegen Putin als personifizierten Teufel. Es ist wirklich schrecklich. Während über den israelischen Krieg gegen die Bevölkerung in Gaza kaum noch berichtet wird, werden potenzielle Angriffe von Russland völlig dramatisiert. Die Bevölkerung wird in eine Art russophobe Psychose versetzt, um die 5 Prozent Rüstungsausgaben durchzusetzen.
Nationalregierung ist ein absurdes Theater ‒ Beschlüsse werden woanders getroffen
RT: Wie geht es jetzt weiter mit den Regierungsgeschäften?
Van der Pijl: Bis zu den Neuwahlen im Oktober wird die aktuelle Regierung nur noch die allgemeine Verwaltungsarbeit leisten und darf keine politischen Entscheidungen mehr fällen. Am Freitag wurde auch noch öffentlich zugegeben, dass die Niederlande nicht politisch souverän sind, sondern weisungsgebunden gegenüber der NATO agieren müssen. Während der COVID-Krise hatte die niederländische Gesundheitsministerin einmal erklärt, dass der Aufruf des COVID-Notstands in den Niederlanden auf Anweisung der NATO erfolgt sei.
Diesbezüglich hatte kürzlich ein Parlamentsmitglied vom "Forum für Demokratie" folgende Anfrage an die Regierung gestellt: "Stimmt es, dass wir unsere Souveränität an die NATO übertragen haben?" In einem Brief veröffentlichte die Regierung am Freitag schwarz auf weiß ihre Antwort: "Ja, wir sind gebunden an Abkommen mit der NATO und auch an andere internationale Organisationen."
RT: Was heißt das konkret für die Unabhängigkeit einer niederländischen Regierung?
Van der Pijl: Das heißt, was sich in unserem Parlament abspielt, ist eigentlich ohne Bedeutung. All unsere sogenannten Regierungsbeschlüsse werden nämlich schon vorher woanders beschlossen. Die nationale Souveränität ist ein absurdes Theater. Das gilt auch für das Migrationsthema. Die Beschlüsse über die Asylpolitik werden von der EU-Kommission getroffen. Daran kann das niederländische Parlament gar nichts ändern, selbst wenn es das wollte. Und diese Erkenntnis mindert das Drama um die politische Krise in den Niederlanden – denn so gesehen ist es eigentlich eine Krise um nichts!
Prof. Dr. Kees van der Pijl, emeritierter niederländischer Politikwissenschaftler, engagiert sich für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Im Jahr 2022 veröffentlichte er das Buch "States of Emergency: Keeping the Global Population in Check". In deutscher Übersetzung erschien sein Buch 2021 unter dem Titel "Die belagerte Welt: Corona: Die Mobilisierung der Angst – und wie wir uns daraus befreien können". Auf seinem Twitter-Account berichtet er regelmäßig auch über die Situation in den Niederlanden.
Mehr zum Thema ‒ Kritik an Brüsseler Einfluss: Ungarn und Slowakei lehnen "Demokratie"-Erklärung ab