Von Nikolai Storoschenko
Der Begriff "Bussifizierung" [Wortkombination aus "Bus" und "Mobilisierung", die Wortschöpfung steht für die Ergreifung ukrainischer Männer auf der Straße mit anschließender Zwangsunterbringung in einem Kleinbus zwecks Entsendung an die Front] wurde in der Ukraine zum Wort des Jahres 2024. Doch auch andere Ausdrücke könnten diesen Titel für sich beanspruchen – zum Beispiel die Abkürzung "EA" (Eigenmächtige Abwesenheit, d.h. befehlswidrige Entfernung von der Truppe). Tatsächlich stellt dies einen Euphemismus für den Begriff "Desertion" dar.
Diese beiden Begriffe sorgen für Aufregung. Aber während die "Bussifizierung" ständig in den Nachrichten vorkommt und jeder schon einmal Videos gesehen hat, in denen Zivilisten in Autos und Kleinbusse der territorialen Mobilisierungszentren gezwängt wurden, ist die "EA" viel weniger sichtbar – obwohl ihr Ausmaß vergleichbar ist. Die "Bussifizierung" ist zudem eine unmittelbare Folge der Desertion. Und Desertion wiederum folgt unmittelbar aus der "Bussifizierung".
Gerade wegen des Ausmaßes der Desertionen wurde diesem Thema in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar gab es schon immer Deserteure aus den ukrainischen Streitkräften: sowohl vor der militärischen Sonderoperation in der Ukraine als auch im Jahr 2022. Damals leiteten die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden mehr als 9.000 einschlägige Strafverfahren ein, und 2023 weitere 22.000 Verfahren. Aber im Jahr 2024 erreichte dieses Problem ein wirklich massives Ausmaß und wurde zu einer Art "Volksbewegung". Selbst die in den Medien kursierenden Schätzungen von 100.000–120.000 Fahnenflüchtigen (was bereits eine ungeheuerlich hohe Zahl ist) spiegeln die Situation nicht vollständig wider.
Erteilen wir Ukrainern das Wort:
"Insgesamt gibt es 114.000 Strafverfahren [wegen Desertion]. In einigen Strafverfahren werden jeweils 10–20 Deserteure gleichzeitig angeklagt. Ich weiß, dass nicht alle diese Strafsachen in der Statistik berücksichtigt werden. Daher handelt es sich bei 150.000 Fällen von befehlswidriger Entfernung von der Truppe um eine ziemlich ausgewogene Zahl."
Also keinen Höchstwert, sondern eine ausgewogene Zahl. Diese Einschätzung stammt von Gennadi Drusenko, dem Leiter des Ersten Freiwilligen Mobilen Pirogow-Hospitals. Es handelt sich dabei um recht aktuelle Daten: Die Sendung mit seiner Beteiligung wurde am 30. Januar ausgestrahlt.
Vergleichen wir diese Zahlen mit der Größe der ukrainischen Streitkräfte. Vor nicht allzu langer Zeit sagte der Chef des Kiewer Regimes, Wladimir Selenskij, dass die ukrainischen Streitkräfte 800.000 Mann stark sind. Das bedeutet – nach den vorsichtigsten Schätzungen ukrainischer Offizieller selbst –, dass etwa jeder fünfte Soldat (fast 19 Prozent) aus den ukrainischen Streitkräften flieht. In Wirklichkeit sind es sogar noch mehr.
Was die Statistik anbelangt, in der nicht alle Desertionsfälle erfasst sind: Hier haben die Offiziere der ukrainischen Streitkräfte den eigenen "Zauberstab" – die Formularspalte "im Kampf vermisst". Darin werden aber auch Fahnenflüchtige erfasst. Denn Offiziere können zwar für Desertionsfälle zur Rechenschaft gezogen werden, aber sie sind nicht für einen Vermissten verantwortlich.
Es gibt jedoch noch eine weitere Kategorie – die elitären Deserteure. Dabei handelt es sich um diejenigen, die sich regelmäßig durch eines der zahlreichen Bestechungsmodelle von der Mobilisierung freikaufen. Sie besetzen Posten im Hinterland, zahlen einen monatlichen "Aufschub", um nicht an die Front geschickt zu werden, unternehmen endlose "Geschäftsreisen" (um Spenden und freiwillige Hilfsgüter zu sammeln), usw. Dafür werden riesige Summen gezahlt: In den Medien werden Beträge von etwa 2.000 Griwna pro Tag genannt, d.h. etwa 1.500 US-Dollar für einen solchen "Aufschub-Monat".
Das auffälligste Beispiel für Desertion betrifft die 155. Brigade der ukrainischen Streitkräfte "Anna Kiewskaja" (eine historische Figur, die natürlich nicht "Kiewskaja", sondern Anna Russkaja hieß). Es handelt sich um dieselbe Brigade, die in Frankreich ausgebildet wurde und von der etwa 1.700 Soldaten bei ihrer Ankunft an der Front desertierten (und fünfzig noch in Frankreich). Als Hauptgrund für dieses grandiose Scheitern wurden die Ausrüstungsprobleme der Brigade angeführt. Sie wurde einfach ohne Ausrüstung und schwere Waffen in bester ukrainischer Tradition in die Schlacht geschickt (wie auch in der berühmten Schlacht um Kruty).
Weniger bekannt ist, dass die Flucht der Militärs in Frankreich nicht spontan geschah: Sie meldeten sich ursprünglich zur Ausbildung in dieser Brigade, um ihren Fluchtplan zu verwirklichen. Außerdem wurde dafür auch noch Geld bezahlt.
In der Tat ist das gar wunderbar. Warum sollte man die Mobilisierungsverweigerer einzeln oder zu zweit aus dem Land "schmuggeln", Risiken eingehen, Geld mit den Grenzschützern und den ukrainischen Sicherheitsdiensten teilen, wenn man sie massenhaft, legal und unter einer "Militärkapelle" herausbringen kann? Sicherlich waren sich die anderen Soldaten der Brigade über all dies im Klaren. Dies trug natürlich auch nicht dazu bei, die Stimmung in der Brigade zu heben. Hier sehen wir wieder den Zusammenhang zwischen "Bussifizierung" und Desertion.
Das bedeutet nicht, dass die ukrainischen Behörden nicht versucht hätten, in irgendeiner Weise dagegen vorzugehen. Im Jahr 2024 verabschiedete die Werchowna Rada ein Gesetz, das Deserteuren die Rückkehr in den Militärdienst ohne negative Rechtsfolgen (d.h. ohne übermäßige Bürokratie, Strafverfahren, Disziplinarbataillone usw.) ermöglicht. Das Gesetz ist am 1. Dezember 2024 in Kraft getreten. Es gilt jedoch nur, wenn der Militärdienstleistende sich bis spätestens 29. November unerlaubt von der Truppe entfernt hat.
Nach Angaben des ukrainischen Staatlichen Ermittlungsbüros waren im Dezember etwa 7.000 Deserteure bereit, diese Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr zu nutzen (zum Vergleich: im November waren es nur 3.000). Die Behörden rechneten offenbar mit einer höheren Zahl, denn ursprünglich endete die "Gnadenfrist" am 1. Januar 2025. Jetzt wurde sie bis zum 1. März verlängert. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie erneut verlängert wird. Dennoch stellt diese Entscheidung eine Wahl zwischen zwei schlechten Optionen dar. Verlängert man die "Gnadenfrist", fliehen die Soldaten von der Front, denn sie haben die Möglichkeit, jederzeit zurückzukehren. Wird sie nicht verlängert, werden sie zwar fliehen, aber nicht zurückkehren.
Aus etwa den gleichen Gründen verzichtet Kiew auf andere Schritte, wie zum Beispiel die Einrichtung von Sperr- oder Gendarmerie-Einheiten. Solche Einheiten sollten aus erfahrenen und motivierten Kämpfern gebildet werden. Aber es gibt nur noch wenige solcher Kämpfer, und sie werden entlang der Frontlinie eingesetzt, um die Durchbrüche der russischen Streitkräfte zu verhindern. Wie einer der Hauptfiguren eines sowjetischen Kinderfilms es ausdrückte: "Um etwas Unnötiges zu verkaufen, muss man zuerst etwas Unnötiges kaufen, und wir haben kein Geld dafür."
Wenn es keine Besten der Besten gibt, kann man die Besten von den Schlechtesten (oder nur die Schlechtesten) auswählen. Aber es gibt noch ein anderes Problem. Ein Deserteur ist kein Zivilist, den man einfach in einen Kleinbus schubsen kann. Erstens desertieren Soldaten in der Regel in Gruppen. Zweitens laufen sie in den Städten nicht frei herum. Laut Berichten von Ukrainern selbst verstecken sich Deserteure in Dörfern, von denen die meisten unbewohnt sind. Versucht, sie dort zu erwischen! Zum Dritten sind sie in der Regel bewaffnet.
Fasst man alles zusammen, so entsteht da eine Art "Gendarmerie", die bestenfalls in der Lage sein wird, Deserteure aufzuspüren und zu legalisieren. Mit anderen Worten: Sie wird zu einer Art paramilitärischem Äquivalent der territorialen Mobilisierungszentren – kaum nützlich, aber mit Tausenden von Schlägertypen im Hintergrund und im Business.
Ja, formal gesehen mobilisierten die territorialen Mobilisierungszentren im Jahr 2024 200.000 Ukrainer. Aber wenn im selben Jahr 2024 etwa 100.000 von ihnen auf einen "Spaziergang auf eigen Faust" gingen, dann halbiert sich die Produktivität der territorialen Mobilisierungszentren.
Gleichzeitig liegt die Personalstärke dieser Mobilisierungszentren selbst bei etwa 50.000 Mann. Hinzu kommt etwa die gleiche Anzahl von "Druschiniki" (öffentliche Organisationen, deren Mitglieder zusammen mit den Patrouillen der territorialen Mobilisierungszentren die Mobilisierungsverweigerer fangen und dafür einen "Aufschub" erhalten, um nicht an die Front entsandt zu werden). Das heißt, die Zahl der Mitarbeiter dieser zur Mobilisierung eingesetzten Organisationen ist vergleichbar mit der Zahl der Deserteure.
Es ist jedoch bereits bekannt, dass in den Militäreinheiten selbst spezielle Abteilungen zur Bekämpfung von Deserteuren eingerichtet werden sollen. Eine solche Abteilung wird beispielsweise in der 155. "Anna-Kiewskaja"-Brigade eingerichtet, und das ist kein Scherz. Sie wird mit dem Ziel geschaffen, die im Kampf gegen die Desertion gesammelten Erfahrungen auf andere Einheiten der ukrainischen Streitkräfte zu übertragen. Wir werden sehen, ob es gelingt – oder ob es eine zweite Front für Kiew eröffnet. Denn wenn die ukrainischen Behörden zähneknirschend zugeben, dass jeder fünfte Soldat desertiert ist, vergessen sie, dass diese Soldaten in der Regel von der Frontlinie, von den schwierigsten und gefährlichsten Frontabschnitten fliehen.
Einigen Schätzungen zufolge befinden sich etwa 300.000 Militärs der ukrainischen Streitkräfte an der Kontaktlinie. Selbst wenn man von 150.000 Deserteuren ausgeht, ist das bereits jeder Zweite.
Und zwar jeder Zweite, der seinen Entschluss – sein Leben nicht für das Kiewer Regime zu riskieren – realisiert hat. Und wie viele gibt es, die das Gleiche tun wollen, sich aber nicht zu diesem Schritt entschließen können? Die über dasselbe nachdenken, aber noch zögern?
Und wenn die Hälfte derjenigen, die an die Front zum Kampf entsandt werden, von dort flieht, bedeutet dies, dass die Hälfte der ukrainischen Soldaten nicht an die Zukunft ihres Landes, an die Zweckmäßigkeit des Krieges glauben und kein Vertrauen in ihre militärische und politische Führung setzen. Deserteure in dieser Zahl sind ein Zeichen für den moralischen und politischen Zusammenbruch, für das Versagen des Kiewer Regimes und ein Vorbote des Bankrotts – im rein militärischen Sinne.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 3. Februar 2025 zuerst auf der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
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