Nach dem dritten Jahr der Kämpfe leidet die Ukraine unter einem akuten Mangel an Soldaten, auch aufgrund von Desertionen, wie The Guardian berichtet. Olga Reschetilowa, die Ombudsfrau der Werchowna Rada für den Schutz der Rechte von Soldaten, sagte dem Nachrichtenmagazin:
"Seien wir ehrlich. Das Problem ist groß. Das ist ganz normal, wenn man drei Jahre lang in einem totalen Krieg gelebt hat. Die Menschen sind erschöpft. Sie wollen ihre Familien sehen. Ihre Kinder wachsen ohne sie auf. Die Beziehungen zerbröckeln."
Die militärische Ombudsfrau fügte hinzu, dass viele Soldaten psychische Probleme entwickelt haben und selbst ein kleiner Konflikt mit ihren Kommandeuren den Wunsch auslösen kann, zu desertieren. Sie behauptet:
"Dies ist ein komplexes Problem. Wir können es nicht mit strafrechtlicher Bestrafung lösen. Wenn man die Wahl zwischen Tod und Gefängnis hat, wird man sich in diesem Moment natürlich für die zweite Option entscheiden."
Der Soldat Wiktor (Name geändert) sagte der Nachrichtenagentur, er sei einer von Tausenden ukrainischen Soldaten, die desertiert seien, und sein Kommando habe ihn als vermisst gemeldet. Der ehemalige Scharfschütze behauptet:
"Alle sind müde. Die Stimmung hat sich geändert. Früher haben die Menschen die Soldaten auf der Straße umarmt. Jetzt haben sie Angst, eingezogen zu werden."
Ein anderer Soldat, Alexei (Name geändert), gab als Grund für seine Desertion einen Konflikt mit seinem neuen Kommandeur an, weil er sich geweigert hatte, in eine andere Einheit zu wechseln. Er erklärt:
"Ich hatte den Siedepunkt erreicht. Also beschloss ich, dorthin zu gehen, wo mich niemand finden würde. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Leute wie mich wird es geben."
Die genaue Zahl der ukrainischen Soldaten, die desertiert sind, ist ein militärisches Geheimnis, aber Beamte geben zu, dass es viele von ihnen sind, wie The Guardian berichtete. Demnach sind die Soldaten müde vom "monatelangen Dienst ohne richtige Erholung".
Die Ukraine hat am 24. Februar 2022 die allgemeine Mobilmachung und das Kriegsrecht ausgerufen und seither mehrmals verlängert. Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Alexander Syrski, bezeichnete die Zahl der Wehrpflichtigen als unzureichend für die Bedürfnisse der Armee.
Er äußerte sich auch zu Fällen, in denen Spezialisten, die Flugzeuge bedienen, zur Infanterie versetzt werden. Syrski zufolge geschieht dies "in einem vernünftigen Rahmen", da solche Praktiken in den Bereichen Logistik, Wartung und Unterstützung aufgrund der unzureichenden Personalausstattung üblich sind. Das Verbot der Versetzung von hoch qualifiziertem Personal sei jedoch nach wie vor in Kraft, fügte der Oberkommandierende hinzu.
Vergangene Woche verhaftete ein ukrainisches Gericht den ehemaligen Kommandeur der 155. Anna-Kiewskaja-Brigade, Dmitri Rjumschin, wegen des Verdachts, die Massendesertion von Untergebenen gefördert zu haben. Der Chefredakteur der ukrainischen Nachrichten- und Analyse-Webseite Censor.net, Juri Butussow, behauptete Anfang Dezember, dass 1,7 Tausend Soldaten aus der Brigade desertiert seien, noch bevor sie an der Front eintrafen. Rjumschin drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis.
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