Moldawien: Die Gefahren des Patts

Nun hat es also stattgefunden, das Referendum über den EU-Beitritt Moldawiens, und mit allem betriebenen Aufwand ‒ werbetechnisch wie polizeilich ‒ gab es ein Ergebnis, das niemanden glücklich machen kann. Denn ein Patt ist hochgefährlich.

Von Dagmar Henn

Immerhin, ein wenig unheimlich ist dieses Ergebnis selbst den Leitmedien, und sie können sich nicht zu einem großen Jubel aufraffen. Die Tagesschau beispielsweise schreibt:

"Bei den letzten Auszählungen hat sich das Blatt gewendet: Die Bürger Moldaus entschieden mit sehr knapper Mehrheit doch für einen Pro-EU-Kurs in ihrer Verfassung."

Wer genau genug liest, kann sogar aus deren Bericht einige der Stellen erkennen, an denen eingegriffen wurde, um diese knappe Mehrheit überhaupt zu erreichen: denn erst die Stimmen aus dem Ausland drehten das Ergebnis:

"Die Gegner des Referendums lagen zunächst mit 57 Prozent in Führung. Es stand allerdings noch die Auszählung der im Ausland lebenden Moldauer aus ‒ und die stimmten, wie von Experten erwartet, offenbar deutlich häufiger für den Pro-EU-Kurs."

Klar, dass nicht erwähnt wird, dass schon die Zahl der vorhandenen Stimmzettel bei besagter Wahl im Ausland in den westlichen Wahllokalen höher lag. Und auch nichts wird über all die anderen manipulativen Schritte erwähnt, wie Parteiverbote oder Hausdurchsuchungen bei der Opposition kurz vor der Wahl, oder die vielen Besuche aus der EU, oder die westlichen NGOs... Aber selbst wenn es das alles nicht gäbe, wenn dieses Votum mit 50,39 die reine Wahrheit wäre, hätte Moldawien immer noch ein gigantisches Problem. Weil es wenige Situationen gibt, die politisch gefährlicher sind als ein Patt in einer entscheidenden politischen Frage.

Das wäre auch dann der Fall, wenn es dabei nicht um eine Wahl zwischen zwei Seiten ginge, die sich faktisch derzeit miteinander im Krieg befinden. Sogar der sprichwörtliche Kaninchenzüchterverein hätte damit ein Problem. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 war das Ergebnis weit weniger knapp, aber die Folgen sind bis heute für jeden sichtbar.

Es ist einfach nachzuvollziehen. Die Mehrheit ist schlicht zu dünn, um daraus irgendwelche Handlungen zu legitimieren, die gegen die Interessen der anderen Hälfte verstoßen. Was würde in unserem Kaninchenzüchterverein passieren? Nehmen wir einmal an, der Verein erstreckt sich über mehrere Orte. Das Vereinslokal liegt im Ort A, aber bei den Wahlen gibt es eine hauchdünne Mehrheit für eine Verlegung in den Ort B. Was wäre die Folge? Normalerweise erzwingt ein solches Ergebnis einen Kompromiss. Wenn es in der Auseinandersetzung aber um ein Entweder-Oder geht, gibt es danach entweder zwei Vereine oder gar keinen mehr.

Das sieht, bezogen auf ganze Länder, nicht anders aus. Das Problem liegt nicht einmal so sehr in den Details, auch wenn einiges daran den üblichen Hautgout der westlichen Demokratie verbreitet, wie selbst die Tagesschau eingestehen muss:

"EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bei einem Besuch in Moldaus Hauptstadt Chisinau und einem Treffen mit Sandu kurz vor der Abstimmung 1,8 Milliarden Euro an Fördergeld in Aussicht gestellt."

Immerhin 720 Euro pro Nase. Dafür war das Wahlergebnis miserabel. Der entscheidende Punkt sind aber die Konsequenzen. Das war einmal einer der Gründe, die vermutlich Wiktor Janukowitsch in der Ukraine bei den Verhandlungen zum EU-Assoziierungsabkommen damals, 2013, zögern ließen: nicht nur die negativen wirtschaftlichen Folgen, sondern eben auch die Tatsache, dass die Mehrheiten zu knapp waren. Sein Versuch, das Abkommen hinauszuzögern, war in diesem Moment eigentlich die richtige politische Entscheidung, wurde aber von der EU mit dem Maidan quittiert.

Wenn Moldawien eine Chance hätte, eine eigenständige politische Entscheidung zu treffen, würde sie in dem Moment Neutralität heißen müssen. Weil nur gleicher Abstand und gleiche Nähe in Richtung Russland wie in Richtung EU/NATO überhaupt die Chance eröffnen, mit diesem Ergebnis umzugehen.

Das ist aber äußerst unwahrscheinlich. Denn die Ansprüche, die die EU auf Länder erhebt, nehmen keinerlei Rücksicht auf deren innere Entwicklung, wie das bereits 2013/2014 zu sehen war. Selbst eine einzelne Stimme Mehrheit gälte in Brüssel als Legitimation, um das volle Programm durchzuziehen.

Diese Legitimation ist aber nicht vorhanden. Auch ohne Indizien oder gar Belege über Eingriffe in den Wahlprozess ‒ derart knappe Mehrheiten erzeugen diese Vorwürfe von alleine. Sie würden sie sogar dann erzeugen, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, die Wahlen unter Beobachtung stattgefunden hätten und von geradezu klinischer Reinheit gewesen wären (was sie nicht waren).

Nun gibt es natürlich neben der reinen Halbierung der Stimmen noch einen weiteren Faktor, der zu beachten ist: Wenn diese Halbierung sozial wie geografisch gleichmäßig ist, ist sie noch vergleichsweise ungefährlich. Sobald sie sich auf der Landkarte widerspiegelt, ist diese Situation noch um vieles gefährlicher. So war das damals in der Ukraine, und jeder weiß, dass das in einem Bürgerkrieg endete. So ist das auch in den Vereinigten Staaten, und seitdem gibt es in einigen Bundesstaaten eine ernsthafte politische Debatte über die Möglichkeit der Sezession (zum Beispiel in Texas). Und so ist es auch in Moldawien, wenn man den Karten glaubt, die die Stimmverteilung wiedergeben: Mit Ausnahme des Bezirks Cantemir, in dem ganze 55.000 Menschen wohnen, gibt es ein zusammenhängendes Gebiet der Zustimmung, umgeben von einem Halbring der Ablehnung ‒ nicht nur in Gagausien oder Transnistrien, wo das zu erwarten gewesen wäre.

Wäre die politische Spaltung in den Vereinigten Staaten geografisch geschlossener verteilt, hätte sie sich schon längst noch deutlicher manifestiert. Ein Ergebnis von hauchzart über 50 Prozent, das aus einer geografisch geschlossenen Region stammt, das aber die Grundlage für tief einschneidende politische Entscheidungen bilden soll, das würde bei jedem erfahrenen Politiker sämtliche Alarmlampen aufleuchten lassen. Denn eine solche Lage kann in einen Bürgerkrieg münden.

Was natürlich von dem Verhalten abhängt, das die Regierung in dieser Lage zeigt. Jeder administrative Schritt zur Absicherung der eigenen Mehrheit erhöht das Risiko. Sprich, Verbote von oppositionellen Gruppierungen, Unterdrückung ihrer Medien et cetera würde sich in einer derartigen Lage verbieten, sofern besagte Regierung auch nur ansatzweise im Interesse des eigenen Landes handelte.

Bezüglich der EU muss man sich in dieser Hinsicht keine Illusionen machen. Da war schon 2013 die Reaktion im Hinblick auf die Ukraine, den Druck zu erhöhen, statt ihn zu verringern, wie es geboten gewesen wäre. Und es steht zu befürchten, dass aus Brüssel ähnliche Vorgaben erneut erfolgen ‒ die Aufforderung, nun so schnell wie möglich den EU-Diktaten nachzukommen, gekoppelt mit einer Mobilisierung des großstädtischen liberalen Mobs, der durch lautstarke Jubelbekundungen die Fiktion einer überwältigenden Mehrheit auf die Fernsehbildschirme zaubern soll.

Was zwar die Erzählung im Westen stabilisiert, aber mitnichten die Verhältnisse im Land. Und was belegt, dass auch Moldawien nur auf der Liste der nützlichen Hilfsmittel steht, aber nicht auf der Liste der als gleichwertig anerkannten Länder. Obwohl man zugeben muss, dass die EU-Eliten auch innerhalb des Konglomerats nicht sehr helle sind und eisern an der Überzeugung festhalten, noch die knappste Mehrheit, wie auch immer sie zustande gekommen sei, wäre Legitimation genug, um sich demokratisch zu nennen.

Die Führung der "proeuropäischen" Seite in Moldawien hat vermutlich nur ein Ziel fest im Auge: eine gut bezahlte Position in Brüssel, wie es Zwergstaatlerin Kaja Kallas gerade erst vorgemacht hat. Denn egal, was sie anstellen, Moldawien bleibt ein Land mit 2,5 Millionen Einwohnern, also eine Pfründe kleiner als das Land Berlin. Und es sind arme 2,5 Millionen, die gerade durch die Politik von Präsidentin Maia Sandu (bei der Landesgröße sollte man sie eher Oberbürgermeisterin nennen) noch ein Stück ärmer geworden sind, wie auch die Tagesschau zugibt:

"Die Preise im Land stiegen zuletzt auch als Folge des Versuchs, bei der Energieversorgung unabhängiger von Russland zu werden."

Und schon haben wir den nächsten Punkt, der das Problem weiter verschärft. Nämlich, wenn sich die Politik, die sich auf diese extrem knappe Mehrheit beruft, deutlich gegen das unmittelbare materielle Wohl der anderen Hälfte richtet. Das verleiht der Auseinandersetzung noch eine ökonomische Tiefe. Auch hier lässt sich das mit der ukrainischen Situation 2013/14 vergleichen ‒ die Industriebetriebe des Südostens, also der späteren Volksrepubliken Donezk und Lugansk, waren Richtung Osten orientiert und hätten ihre Absatzmärkte und Zulieferer verloren.

Es wird also in vielen Aspekten eine Wiederholung geboten. Wobei man vielleicht hinzufügen sollte, dass die Gebiete in Moldawien, in denen größere Teile ukrainischsprachiger Bevölkerung leben, weit überwiegend nicht für den EU-Beitritt gestimmt haben. Vermutlich, weil sie problemlos verstehen können, wie so etwas endet, und sei es durch Ukrainer, die vor der Einberufung geflohen sind.

Allerdings ist die Lage für die moldawische Opposition nicht einfacher. Trotz aller Vorkommnisse und trotz von der Leyens Stimmenkaufversuch mit 1,8 Milliarden Euro ‒ die Minderheit, die unbedingt meint, in die EU zu müssen, ist auch hier zu groß. Die vernünftige Lösung wäre, jede Entscheidung in irgendeine Richtung auf Eis zu legen, bis der Konflikt in der Ukraine zum Ende gekommen ist und vielleicht wieder die Option auf ein wie auch immer geartetes Dazwischen besteht. Aber könnte man sich so viel Vernunft bei von der Leyen und ihrem Tross vorstellen? Eher nicht.

Was die moldawische Zukunft eher düster wirken lässt, selbst wenn man nicht mit einbezieht, dass Transnistrien im Zuge der sich entfaltenden ukrainischen Niederlage für die NATO immer verlockender aussehen dürfte. Die Deutschen sollten jedoch genau beobachten, wie dieses Patt seine Wirkung entfaltet, denn genau so eine Lage könnte sich in Deutschland in Zukunft auch entwickeln, mit allen dadurch möglichen Folgen.

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