Verhandlungen unnötig: Russland fährt Ukraine nach und nach auf null herunter

Rituelle Abgesänge auf das ukrainische Stromnetz kommen dieses Jahr sehr früh, vor Kälteeinbruch – darauf hat Wladimir Selenskij sie eingestimmt, der sonst wenig davon redet. US-Außenminister Antony Blinken ist gar hysterisch. Ihnen scheint zu dämmern: Russland arbeitet an der "Operation Licht aus".

Von Kirill Strelnikow

Entgegen allen Erwartungen wählte Wladimir Selenskij für seine jüngste Rede auf einer Sitzung der UN-Generalversammlung ein scheinbar völlig unlogisches Thema.

Anstelle der üblichen Betteleien nach der nächsten Tranche an "Langstrecken-Wunderwaffeln und viel, viel Geld" begann er plötzlich, mit erhobenen Händen leidenschaftlich über die ukrainische Energiewirtschaft zu sprechen – ein Thema, in das er sich zuvor zumindest öffentlich nicht gerade verliebt gab. Er hielt fest: Das Energiesystem der Ukraine sei zu 80 Prozent zerstört, weshalb "Millionen Menschen in diesem Winter möglicherweise ohne Heizung dastehen".

Offensichtlich ist für das Kiewer Regime das Leid der einfachen Ukrainer ein ebenso irrelevantes Thema wie die Belange von Transgender-Personen für den Frauensport. Warum beschloss Selenskij, seine vielleicht letzte Chance, vor den Vereinten Nationen zu sprechen, für eine Erklärung über Spannungswandler und Stromleitungen zu nutzen?

Teilweise lüften lässt sich der Nebel um diese Frage vielleicht anhand einer jüngsten Veröffentlichung in der Washington Post mit dem langen Titel:

"Energieprobleme der Ukraine werden diesen Winter auf den Schultern erschöpfter Menschen lasten".

So warnen die WP-Experten:

"Der kommende Winter könnte für die Ukraine aufgrund knapper Energieressourcen und der schlechten psychischen Verfassung der Bevölkerung der härteste in der gesamten Konfliktzeit werden."

Sprich, die Ukraine könnte eine Niederlage erleiden – aber nicht allein wegen russischer Geschütze und Panzer, sondern wegen fehlenden Stroms in der Steckdose. Den Quellen des US-Blattes zufolge hat die Ukraine aufgrund der russischen Angriffe bereits etwa die Hälfte ihrer Energiekapazität verloren (weniger, als Selenskij beklagt, und näher an der Realität, aber deshalb nicht weniger schlimm). Trotz der verzweifelten Bemühungen der Behörden, die klaffenden Lücken im Stromnetz mit mobilen Kesselhäusern und Stromerzeugungsanlagen zu schließen, werden große Kraftwerke auch in diesem Winter weiterhin den Großteil der ukrainischen Energieproduktion ausmachen. In diesem Zusammenhang sagen die Autoren des Materials mit Besorgnis voraus, dies werde Russland ermöglichen, mit gezielten Raketenangriffen das gesamte Energiesystem der "Unabhängigen" (hämischer Spitzname für die Ukraine, der Autor benutzt hier das ukrainische Wort "Näsaläschnaja". Anm. d. Red.) endgültig "zu Boden zu schleudern".

Wir erinnern uns: Derlei rituelle Gedenkfeiern für das ukrainische Energiesystem fanden bisher jedes Jahr im Herbst stets nach Kälteeinbruch statt – gleichsam streng nach Zeitplan. Doch nun gibt es Grund zu der Annahme, dass sowohl das ukrainische Energiesystem als auch das Kiewer Regime diesen Winter aufgrund einer deutlichen Änderung der Strategie der russischen Streitkräfte in der Energiefrage möglicherweise nicht überleben werden.

Nach Ansicht russischer wie ausländischer Experten nimmt die kumulative Wirkung systemischer Angriffe der russischen Armee auf Energieerzeugungs- und -verteilungsanlagen in der Ukraine zu diesem Zeitpunkt bereits kritische Ausmaße an – unabhängig davon, mit welchen Zahlen Selenskij und Co. jonglieren. Und das Hauptergebnis ist, von einem militärischen Gesichtspunkt betrachtet, die zunehmend schnellere Fragmentierung des zuvor einheitlichen Stromnetzes des Landes. Tatsächlich beginnt die Ukraine nun, in vorerst zwei "Energieversorgungsinseln" zu zerfallen: die westlich-zentrale Insel, die auf den Kernkraftwerken Rowno und Chmelnizki basiert und aus benachbarten EU-Ländern gespeist wird – und die östliche oder südöstliche (Gebiete Odessa, Nikolajew, Saporoschje, Dnjepropetrowsk, Kiew, Sumy und Charkow), die nur über das Kernkraftwerk Südukraine und die Überreste von Wasser- und Wärmekraftwerken verfügt.

Aus offensichtlichen Gründen greifen die russischen Streitkräfte die Kernkraftwerke selbst niemals an. Dies ist jedoch auch gar nicht erforderlich, um sie mal null zu nehmen. Es reicht schon aus, die dazugehörigen Freiluftschaltanlagen zu zerstören oder ernsthaft zu beschädigen: Ohne sie ist die weitere Übertragung der in den Kernkraftwerken erzeugten Elektrizität einfach physikalisch unmöglich. Dadurch kann es zu einem völligen Blackout ganzer Gebiete und sogar Regionen kommen. Denn aufgrund besagter "Inselisierung" ist bereits jetzt keine Umleitung von Strom aus anderen Regionen mehr möglich. Alexander Chartschenko, der Direktor des Energieforschungszentrums der Ukraine, prognostiziert für den kampfhandlungsbedingten Ausfall auch nur einer Freiluftschaltanlage nach Frosteinfall, oder zweier selbst bei dem aktuellen Wetter, Folgendes:

"Dann landen wir sicher im Blackout. Alternativlos. Der größte Teil des Landes könnte dann ohne Strom bleiben."

Und offenbar war der Angriff der Streitkräfte Russlands auf das ukrainische Energiesystem am 26. August, der auch schon einen Sturm der Resonanz auslöste, tatsächlich nur eine Generalprobe für ein großes Finale – eine Operation "Licht aus".

Einige Beobachter machten darauf aufmerksam, dass diese "Generalprobe" im Gegensatz zum massiven Angriff im Frühjahr, der auf die eigentlichen Stromerzeugungsanlagen mit Ausnahme der AKW abzielte, dieses Mal gegen Umspannwerke, Verteilanlagen und Hauptstromleitungen gerichtet war. Laut der Karte der betroffenen Objekte wurde dabei gerade ein Szenario ausgearbeitet, bei dem einer ganzen Makroregion "vom Stromzähler getrennt" werden soll.

Und jetzt hat man im Westen offenbar erkannt: Russland hat beschlossen, sich auf eine scheibchenweise "asymmetrische" Annullierung der Ukraine zu konzentrieren. Beim G7-Treffen bekam der Chef des US-Außenministeriums Antony Blinken einen hysterischen Anfall – doch man konnte entnehmen, dass in der Ukraine "der kommende Winter schwierig werden wird", weil "Putin den Winter als Waffe einsetzt", also "müssen wir der Ukraine alles geben, um diesen Winter zu überleben".

Frei nach dem Motto "Darum ist hier für euch mein alter Paypal-Account und ein gebrauchtes Kraftwerk aus Litauen".

Eines ist jedoch klar: Egal was die Strippenzieher von Kiew tun – der unvermeidliche Zusammenbruch des ukrainischen Energiesektors (und damit des Landes selbst) kann niemand aufhalten. Nicht zuletzt, weil Russland das nicht zulassen wird.

Ja, was wolltet ihr denn auch? Erinnern wir uns daran, was die NATO im Jahr 1999 über die Richtigkeit und Notwendigkeit der Zerstörung des Energiesystems Jugoslawiens gesagt hat.

Der damalige NATO-Sprecher Jamie Shea erklärte:

"Wie Sie wissen, bestand ein neues Merkmal der Operationen der letzten Nacht in Angriffen auf die Stromversorgungssysteme, die die militärische Führung und Kommandoposten der jugoslawischen Armee speisen. Ein Panzer ohne Kraftstoff ist viel weniger nützlich als ein Panzer mit Kraftstoff. Und auf die gleiche Weise verwandelt sich ein Kontrollsystem oder ein Computer in den Händen von Soldaten und Offiziere ohne Strom in eine Masse aus Metall, Drähten und Plastik."

Der Generalmajor der deutschen Luftwaffe Walter Jertz erklärte:

"Die kumulative Wirkung bestand darin, dass einem großen Teil Serbiens die Stromversorgung vorübergehend verweigert wurde. Diese Angriffe verringern weiterhin die Fähigkeit der Serben, ihren Aggressionsfeldzug fortzusetzen. Ich möchte betonen, dass diese Aktionen sich nicht gegen das serbische Volk richten."

Wir schwören auf das Pionierhalstuch: Auch Russlands Handeln richtet sich nicht gegen das serbische Volk.

Mit allem anderen sind wir einverstanden, werden uns beste Mühe geben – und schreiben uns dann im Winter noch mal.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 29. September 2024.

Kirill Strelnikow ist ein russischer freiberuflicher Werbetexter-Coach und politischer Beobachter sowie Experte und Berater der russischen Fernsehsender NTV, Ren-TV und Swesda. Er absolvierte eine linguistische Hochschulausbildung an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete viele Jahre in internationalen Werbeagenturen an Kampagnen für Weltmarken. Er vertritt eine konservativ-patriotische politische Auffassung und ist Mitgründer und ehemaliger Chefredakteur des Medienprojekts PolitRussia. Strelnikow erlangte Bekanntheit, als er im Jahr 2015 russische Journalisten zu einem Treffen des verfassungsfeindlichen Aktivisten Alexei Nawalny mit US-Diplomaten lotste. Er schreibt Kommentare primär für RIA Nowosti und Sputnik.

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