Von Felicitas Rabe
Seit rund zwei Jahren versucht die EU-Kommission, eine verpflichtende Chatkontrolle für Internetdienste wie soziale Medien durchzusetzen. Dabei sollen Internetdienste verpflichtet werden, verdachtsunabhängig grundsätzlich alle Inhalte und jegliche Kommunikation von allen Nutzern auf mutmaßliche Straftaten zu kontrollieren. Darüber hinaus sollen die Internetanbieter dazu verpflichtet werden, im Falle eines Verdachts auf eine angebliche Straftat die Strafverfolgungsbehörden zu informieren. Vorgeblich brauche man die Kontrollmaßnahme zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch.
Einigen EU-Staaten geht das aktuell noch zu weit. Und auch EU-Parlamentsmitglieder kritisieren die verpflichtende Chatkontrolle als Massenüberwachung. Sie fordern, dass nur Chats von solchen Menschen überwacht werden dürfen, die bereits unter Straftatverdacht stehen. Es dürfe nicht alles und jeder überwacht werden. Nach zweimonatiger Sommerpause des EU-Parlaments versucht man nun unter der neuen ungarischen Ratspräsidentschaft erneut, sich in dieser Frage zu einigen.
Wie das Fachportal Netzpolitik am Dienstag berichtete, haben die ständigen Vertreter der Mitgliedsländer am 9. September einen Kompromissvorschlag erarbeitet, über den beim EU-Ratstreffen am kommenden Montag in Brüssel verhandelt werden soll. Netzpolitik veröffentlichte unter dem Artikel "Sperrminorität gegen Chatkontrolle wackelt" das Protokoll vom Vorbereitungstreffen, fasste die Diskussion zusammen und bewertete die Ergebnisse. Zur Forderung der EU-Kommission, dass die Internetdienste grundsätzlich jeden Nutzer in Bezug auf die Verbreitung von bekannten Kinderpornografie-Inhalten überwachen müssten, heißt in den Gegenargumenten, dass man bereits etablierte Systeme zur Verfügung habe, um diese Pornoinhalte und ihre Verbreiter zu detektieren.
Ungarn schlägt Kompromiss vor
Als Kompromiss schlägt die ungarische Ratspräsidentschaft vor, dass die Anbieter von Internetdiensten erst einmal nur nach bekannten Straftaten suchen müssten. Nach neuem Material solle erst gesucht werden, wenn die Technik gut genug sei. Die Mehrheit der EU-Staaten hat der verdachtsunabhängigen Überwachung schon komplett zugestimmt. Sie sei für diese sowieso kein Problem gewesen, so Netzpolitik. Diese Länder stimmten nun auch kritiklos dem neuen Kompromissvorschlag zu. Dabei hätten sogar zehn Mitgliedsländer betont, "dass mit dem vorliegenden Vorschlag die Grenze der Kompromissbereitschaft für sie erreicht" sei.
Dagegen wollten sechs Staaten in der Vorbereitungsdiskussion auch dem neuen Kompromissvorschlag wegen grundsätzlicher Bedenken nicht zustimmen. Die Bundesrepublik kritisiert die Forderung, wonach Internetdienste bei der Suche nach "bisher unbekannten Straftaten und Tätigkeiten zur Kontaktaufnahme zu Kindern" Künstliche Intelligenz einsetzen sollten: Die Erkennung dieser Inhalte sei "nicht fehlerfrei" möglich. Das deutsche Innenministerium erklärte erst im Juni:
"Verschlüsselte private Kommunikation von Millionen Menschen darf nicht anlasslos kontrolliert werden."
Außerdem forderte die Bundesregierung, verschlüsselte Kommunikation zu schützen und Client-Side-Scanning (CSS) abzulehnen. Beim CSS handelt es sich um eine Technologie, mit der man Inhalte auf den Endgeräten der Nutzer durchsuchen kann, bevor sie verschlüsselt und versendet werden. Das umfasst insbesondere die persönliche Kommunikation auf Smartphones.
Unterschiedliche Auffassungen in den EU-Mitgliedsländern
Überwachungspflichten für Internetdienste hat das österreichische Parlament bereits vor zwei Jahren abgelehnt. Daran sei nun die österreichische Regierung gesetzlich gebunden, beschreibt Netzpolitik die Situation im Nachbarland. Auch in Polen, Slowenien und Luxemburg lehnt man die Massenüberwachung ab, weil sie unverhältnismäßig sei. Estland betrachtet die Massenüberwachung als Gefahr. Italien lehnt aufgrund "schwieriger nationaler Diskussionen" ab ‒ einige Regierungsstellen seien "sehr skeptisch".
In Frankreich, wo man zunächst schon einmal für die Chatkontrolle gewesen war, habe man sie anschließend wieder abgelehnt. Die aktuelle Position sei unklar, weil man nach den Wahlen erst noch eine neue Regierung bilden müsse. In der Vorbereitungsdiskussion verwies Frankreich auf "eine anhaltende nationale Debatte".
Bislang hatten die Niederlande die flächendeckende Chatüberwachung kategorisch abgelehnt. In der aktuellen Diskussion bezeichneten deren Vertreter den neuen Vorschlag wiederum als "ermutigend". Mit Hinweis auf die neue Regierung verwiesen die niederländischen Verhandler deshalb "auf noch ausstehende nationale Abstimmungsprozesse". Belgien sei noch dabei, den Kompromissvorschlag zu prüfen, und Tschechien verweise ebenfalls auf "eine sehr kontroverse Debatte über das Thema".
Entscheidungsmodus der EU: "Qualifizierte Mehrheit muss zustimmen"
Für eine Annahme des Kompromissvorschlags und ganz grundsätzlich für einen Beschluss des Gesetzesentwurfs im EU-Rat muss eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer zustimmen. Laut EU-Abstimmungsregeln heißt das:
"Eine qualifizierte Mehrheit kommt dann zustande, wenn die beiden folgenden Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: 55 Prozent der Mitgliedsstaaten stimmen für den Vorschlag – in der Praxis bedeutet das 15 von 27; der Vorschlag wird von Mitgliedsstaaten unterstützt, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen."
Demnach können vier Staaten mit 35 Prozent der EU-Bevölkerung eine Sperrminorität bilden. Die sechs kritischen Staaten, die die Chatkontrolle und auch den neuen Kompromissvorschlag auf jeden Fall ablehnen, umfassen zusammen aber nur knapp 30 Prozent der EU-Bevölkerung. Insofern hängt die Einführung der EU-weiten verdachtsunabhängigen Massenüberwachung zurzeit an den ausstehenden Entscheidungen der noch unentschiedenen Länder. Netzpolitik fasst die Lage wie folgt zusammen:
"Sollten also Frankreich oder Italien – oder zwei Staaten von Niederlande, Belgien und Tschechien – den neuen Vorschlag ablehnen, gäbe es auch für den Kompromiss bei der Verpflichtung der Internetdienste zur Chatkontrolle keine Mehrheit."
Dabei hat der Juristische Dienst der EU-Staaten in seiner Fachexpertise im vergangenen Jahr entschieden, dass die mit der Chatkontrolle verbundene Massenüberwachung den EU-Grundrechten widersprechen würde. Die geplante Chatkontrolle würde vor Gericht scheitern, so die Juristen. Nach deren Bewertung sei der Vorschlag illegal. Der Datenschutzbeauftragte der EU-Kontrollbehörde EDSB, Wojciech Wiewiórowski, erklärte dazu: "Maßnahmen, die es den Behörden ermöglichen, allgemein auf den Inhalt der Kommunikation zuzugreifen, berühren den Kern des Rechts auf Privatleben. Selbst wenn die eingesetzte Technologie auf die Verwendung von Indikatoren beschränkt ist, sind die negativen Auswirkungen einer allgemeinen Überwachung der Text- und Audiokommunikation von Einzelpersonen so gravierend, dass sie nicht durch die EU-Grundrechtecharta gerechtfertigt werden können."
Schließlich heißt es in der Bewertung der juristischen Dienste der EU dazu im Abschnitt III "Rechtliche Analyse", unter Punkt 1 mit dem Titel "Die Einschränkungen der Grundrechte müssen gesetzlich geregelt sein":
"Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des Gerichtshofs beinhaltet die Anforderung, dass jede Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts gesetzlich vorgesehen sein muss. Das bedeutet, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in diese Rechte erlaubt, selbst den Umfang der Beschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts festlegen muss. Daher bezieht sich dieses Erfordernis nicht nur auf die Tatsache, dass der Eingriff "gesetzlich" begründet sein muss ‒ was hier nicht der Fall ist ‒, es bedeutet auch, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in diese Rechte erlaubt, selbst den Umfang der Beschränkung klar und genau festlegen muss. Die fragliche Maßnahme muss zugänglich und vorhersehbar sein und folglich eine sinnvolle gerichtliche Kontrolle ermöglichen, auch wenn sie hinreichend offen formuliert werden kann, um sich an unterschiedliche verschiedene Szenarien anzupassen und mit den sich ändernden Umständen Schritt zu halten."
Diese Anforderungen seien bei der geplanten verpflichtenden Massenüberwachung von Internetchats nicht erfüllt, so die juristische Expertise der EU-Behörden. Dennoch werden am Montag die Berater für Justiz und Inneres der Mitgliedsländer weiter über den ungarischen Vorschlag verhandeln. Völlig unabhängig vom kritischen EU-Rechtsgutachten werden die Justiz- und Innenminister der Mitgliedsländer am 10. Oktober einen Beschluss über die Beibehaltung oder Abschaffung der Privatsphäre in der digitalen Kommunikation fassen.
Mehr zum Thema ‒ Sonneborn zum "Digital Services Act": Von der Leyen zerschlägt Grundrechte und streut Desinfomation