Defizitkrise: Frankreich hofft auf Barmherzigkeit aus Brüssel

Michel Barnier, Frankreichs neuer Premier, greift auf alte EU-Verbindungen zurück, um Zeit im Haushaltsstreit zu gewinnen. Doch auch mit einer Fristverlängerung bleibt der Druck hoch: Brüssel fordert drastische Kürzungen, und Frankreich drohen unpopuläre Maßnahmen.

Von Pierre Levy

Es ist immer gut, Freunde in Brüssel zu haben. Daran mangelt es dem neuen französischen Premierminister nicht, der zwei Amtszeiten als EU-Kommissar innehatte, die zweite davon als Vizepräsident der Kommission, ganz zu schweigen von der Aufgabe, auf die er besonders stolz ist: die Verhandlungen mit London über die Bedingungen des Brexits.

Kaum war er am 5. September von Emmanuel Macron ernannt worden, öffnete Michel Barnier also sein dickes Adressbuch, um seinen Wunsch zu untermauern, dass eine Frankreich auferlegte Frist um einige Wochen verschoben wird. Denn theoretisch hätte Paris der EU-Exekutive am 20. September seinen Plan vorlegen müssen, um die französischen Staatsfinanzen wieder auf den "richtigen Weg" zu bringen. Zusammen mit sechs anderen Ländern ist Frankreich nämlich von einem "Defizitverfahren" betroffen, das Ende Juli eingeleitet wurde.

Es besteht also kein Zweifel, dass Barnier von seinen ehemaligen Kollegen eine Gnadenfrist erhalten wird, indem er darauf verweist, dass er gerade erst sein Amt angetreten hat und seine Regierung noch nicht gebildet ist.

Offensichtlich wird die Arbeit an den Staatseinnahmen und -ausgaben die entscheidende Priorität für das neue Kabinett sein. Kurz-, mittel- und langfristig. Denn während Brüssel bei der Frist flexibel ist, wird dies nicht für die Art und den Umfang der Maßnahmen gelten, mit denen die Haushaltskriterien wieder eingehalten werden sollen.

Kurzfristig liegt das für das Jahr 2024 prognostizierte öffentliche Defizit bei 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und damit 0,5 Prozent höher als Anfang des Jahres erwartet. Zu den im Februar angekündigten zehn Milliarden Ausgabenkürzungen müssten mindestens 16 Milliarden hinzukommen, damit sich das "Auseinanderdriften der öffentlichen Finanzen" nicht noch weiter verschlechtert, so die für Sparmaßnahmen eintretenden Konjunkturforscher.

Darüber hinaus dürfte sich die Aufstellung des Haushaltsplans für das Jahr 2025 als äußerst schwierige Aufgabe erweisen. Der Entwurf soll dem Parlament am 1. Oktober vorgelegt werden. Es wird von weiteren Kürzungen in Höhe von 30 Milliarden Euro gesprochen – ein gesellschaftlich unhaltbares Niveau in einem Land, in dem sich der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen in den letzten Jahren beschleunigt hat; und politisch kompliziert, da die am 7. Juli gewählte Nationalversammlung zersplitterter ist als je zuvor und daher kaum eine Mehrheit für zwangsläufig unpopuläre Maßnahmen finden dürfte.

Bis zum Ende seiner fünfjährigen Amtszeit, das heißt bis zum Jahr 2027, will der Präsident unter die Drei-Prozent-Defizitgrenze (eine EU-Verpflichtung) zurückkehren. Genau auf diesen Fahrplan wartet Brüssel. Denn die Länder der Eurozone sind verpflichtet, den Stabilitätspakt wieder einzuhalten.

Dieser war während der Zeit der Corona-Pandemie ausgesetzt und nach dessen Ende reformiert worden. Die neue Version lässt den Mitgliedstaaten mehr Zeit, um wieder in die Schranken zu treten, allerdings im Gegenzug für die Durchführung von "Strukturreformen" (etwa für die Renten und den Arbeitsmarkt); sie sieht auch Sanktionen vor, die von Brüssel leichter verhängt werden können. Für Frankreich würde die Strafe, 0,1 Prozent des BIP pro Jahr, rund 2,6 Milliarden Euro betragen. Dies bestätigt, dass der Stabilitätspakt nichts Freiwilliges ist, im Gegensatz zu dem, was das Programm der "Neuen Volksfront" (Linke) suggeriert, die behauptet, sich weigern zu wollen, sich ihm zu unterwerfen, ohne jedoch einen Austritt aus der Europäischen Union in Betracht zu ziehen.

Wenn man diesen eingeschränkten Rahmen akzeptiert (den natürlich weder Herr Macron noch Herr Barnier infrage stellen), bieten sich zwei Wege an: Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen – oder eine Kombination aus beidem. Die erste Spur widerspricht der Linie, die der Präsident seit seinem Einzug in den Elysee-Palast verfolgt; insbesondere kommt es für ihn nicht infrage, die großen Vermögen – die sich seit dem Jahr 2017 insgesamt mehr als verdoppelt haben – zu berühren oder die Geschäftswelt, Banken und multinationale Konzerne, zu verärgern. Bleiben also die Haushaltskürzungen, deren Wiederholung Jahr für Jahr das Land ausbluten lässt.

Man könnte auf Wachstum setzen, das heißt, mehr Wohlstand produzieren, was den Haushalt mit Sauerstoff (steigenden Sozial- und Steuereinnahmen) versorgen würde. Das Ziel, das der Präsident seit Langem anstrebt, ist lobenswert. In der Praxis führt seine Politik, die den Dogmen der Europäischen Union treu bleibt, jedoch zum Gegenteil: Wo massiv in die Arbeit (Löhne, Qualifikationen, Sozialschutz) investiert werden müsste, hält Emmanuel Macron an dem fest, was liberale Ökonomen als "Angebotspolitik" bezeichnen: an tausend und mehr Geschenken für Großunternehmen – Steuererleichterungen, Subventionen, Deregulierungen – und gibt vor zu glauben, dass diese im Gegenzug investieren werden.

Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Im Gegenteil, diese Wohltaten werden häufig in unproduktive Dividenden oder sogar in Aktienrückkäufe umgewandelt.

Und das Wachstum stagniert oder geht sogar zurück. Das französische BIP wird im letzten Quartal voraussichtlich sinken, was das Wachstum für das Jahr 2024 bestenfalls auf ein mageres Prozent drücken wird. Deutschland seinerseits wird in diesem Jahr voraussichtlich sogar in eine Rezession abrutschen. Und auch im Rest der Eurozone sind die Aussichten nicht viel besser: Für dieses Jahr werden gerade einmal 0,8 Prozent erwartet (gegenüber drei Prozent, die in den USA erwartet werden).

Neben den tödlichen Regeln und Dogmen der Währungsunion, die strukturelle Faktoren sind, gibt es zahlreiche konjunkturelle Gründe für dieses Fiasko. Dazu gehören unter anderem die Energiekosten. Diese spielten eine große Rolle bei der Inflation, die auf die Corona-Pandemie folgte. Dies führte dazu, dass viele multinationale Unternehmen ihre Produktion in Länder mit günstigeren Öl- und Gaspreisen verlagerten oder dies planten. Insbesondere in Richtung der USA, wo die Preise zwei- bis dreimal niedriger sind als auf dem alten Kontinent.

Dies ist kein Zufall. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine verkündeten die europäischen Staats- und Regierungschefs lautstark ihren Willen, Russland mit Wellen von Sanktionen zu bestrafen. Sie beschlossen, russisches Öl und Gas vollständig beziehungsweise weitgehend zu boykottieren. Da man sich anderweitig versorgen musste, stiegen die Weltmarktpreise für Kohlenwasserstoffe sprunghaft an.

Washington drängte die EU-27, ihre Lieferungen aus Russland zu stoppen, umso mehr, als die USA kein Öl aus Russland bezogen, also nicht von ihm abhängig waren, und nun zu ihrer Freude sogar Erdgas an ihre europäischen Freunde exportierten – zu höheren Preisen.

Mit anderen Worten: Die EU-Sanktionen gegen Moskau trugen wesentlich zum wirtschaftlichen Desaster der EU-Länder bei und bereicherten gleichzeitig Uncle Sam.

Der Kreml seinerseits kann auf eine ziemlich überhitzte Wirtschaft verweisen, die vor allem durch den Rüstungssektor angekurbelt wird, und sich darüber freuen, dass er im Osten und Süden neue Kunden für seine Kohlenwasserstoffe gefunden hat, die früher in die EU exportiert wurden.

"Wir werden die russische Wirtschaft in die Knie zwingen", verkündete der französische Wirtschaftsminister im März 2022 stolz. Zweieinhalb Jahre später ist Bruno Le Maire Teil der Regierung, die von den Wählern im Juni abgestraft wurde. Er ist nun auf Jobsuche und wird voraussichtlich eine Stelle als Lehrer in Lausanne bekommen.

Das haben die Schweizer nicht verdient …

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