"Sippenhaft" und jenseits der Rechtsstaatlichkeit: Rechtsanwälte kritisieren EU-Sanktionsregime

In einem Brief moniert Ex-Innenminister Otto Schily gemeinsam mit weiteren deutschen Rechtsanwälten das EU-Sanktionsregime. Es sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Das Problem ist allerdings umfassender. Die Sanktionen verstoßen gegen internationales Recht.

Dass das Sanktionsregime Russland kaum schadet, den globalen Handel jedoch in Mitleidenschaft zieht und vor allem Deutschland hart trifft, wird inzwischen nur noch von einigen grünen Hardlinern bestritten. Dennoch hält die EU an den Sanktionen fest und weitet sie zudem aus. Inzwischen gerät das Sanktionsregime der EU aber auch innerhalb des Staatenbündnisses unter Druck.

Eine Gruppe deutscher Rechtsanwälte, darunter Ex-Innenminister Otto Schily, (SPD) kritisiert Teile der Russland-Sanktionen der EU. Sie seien nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, monieren ein knappes Dutzend deutsche Rechtsanwälte in einem Brief.

Personen würden für zum Teil Jahrzehnte zurückliegende Handlungen sanktioniert. Vor allem aber werden Personen auch nach erfolgreicher Klage gegen die gegen sie verhängten Sanktionen nicht von der EU-Sanktionsliste gestrichen. Stattdessen werde der Kriterienkatalog, nach dem Sanktionen verhängt werden, angepasst. Auch gegen Familienmitglieder von Sanktionierten werden Sanktionen verhängt. Damit sei eine Art Sippenhaft geschaffen worden. Die genannten Verfahren ließen sich nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren. 

"Der Rat hat damit eine Befugnis in das EU-Recht eingeführt, die nur als 'Sippenhaftung' bezeichnet werden kann", schreiben die Anwälte.

Die EU sollte es unterlassen, "jedes Mal das Gesetz zu ändern, wenn die Unionsgerichte nicht zu den vom Rat erwarteten Ergebnissen führen", kritisieren die Verfasser des Briefes.

Der Schritt ist beachtlich, denn das Sanktionsregime der EU wird innerhalb des Staatenbündnisses bisher nicht hinterfragt. Umso deutlichere Kritik kommt allerdings aus Ländern, die nicht dem westlichen Bündnis angehören. Ebenso kritisieren die Vereinten Nationen das Sanktionsregime.

Der UN-Menschenrechtsrat hat im vergangenen Jahr die einseitigen Maßnahmen als Verstoß gegen die Menschenrechte gebrandmarkt und ihre sofortige Aufhebung gefordert. Die Maßnahmen würden in ihren globalen Auswirkungen arme Länder besonders hart treffen. Sie verstoßen zudem gegen Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat verwies in dem Zusammenhang erneut darauf, dass der UN-Sicherheitsrat nach UN-Charta das einzige Gremium ist, das Zwangsmaßnahmen gegen Staaten verhängen darf.

Die EU hat sich zur Verhängung von Zwangsmaßnahmen selbst ermächtigt. Sie leitet ihre Berechtigung aus den EU-Verträgen her. Zwar behauptet die EU, die von ihr verhängten Sanktionen seien rechtskonform und würden in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erlassen. Doch das erfordert mehr als nur Zweifel. Die Generalversammlung der UN steht nicht hinter der Aussage. Vor allem der Globale Süden kritisiert die EU massiv für das Verhängen einseitiger Maßnahmen. 

Entgegen der Behauptung der EU zielen die Sanktionen zudem klar erkennbar auf die Zivilbevölkerung. Die Sanktionen sollen die Wirtschaft der sanktionierten Länder einbrechen lassen. Das gilt nicht nur für Russland, sondern auch für Syrien, Venezuela und den Iran. Die Lebenssituation der dort lebenden Menschen soll sich verschlechtern. Ziel ist in der Regel, dass durch Mangel Proteste gegen die jeweilige Regierung ausgelöst werden. Dadurch sollen Regierungen zur Änderung ihrer Politik bewegt, im Idealfall ein Putsch initiiert werden. In der Realität ist es bisher nicht gelungen, Hungerrevolten durch Sanktionen auszulösen, da in der Regel der Rückhalt der Regierungen in den betroffenen Ländern durch Zwangsmaßnahmen wächst, da sie als willkürlich und ungerecht empfunden werden. Es hängt ihnen ein kolonialistischer Geist an. Weder in Russland, noch Weißrussland, in Syrien oder in Venezuela ist die EU über Sanktionen dem Ziel eines Regimewechsels auch nur nahegekommen.  

Neben Wirtschaftssanktionen und Sanktionen gegen Einzelpersonen, die nach Auffassung der EU einer zu maßregelnden Regierung nahestehen, sanktioniert die EU auch Journalisten. Damit verdeutlicht die EU ihr Verhältnis zur Meinungs- und Pressefreiheit. Die Meinungsfreiheit ist auch in anderen Ländern der EU nur dann ein zu schützender Wert, wenn die dort geäußerte Meinung mit der Auffassung der EU-Kommission übereinstimmt. Journalisten, die eine von der EU abweichende Meinung vertreten, bestraft die EU regelmäßig unter anderem mit Einreiseverbot in den Schengen-Raum und dem Einfrieren von Vermögenswerten.  

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