Von Stanislaw Leschtschenko
In den vergangenen sieben Monaten betrug der Strompreis für Großverbraucher in Polen im Durchschnitt 90 Euro pro Megawattstunde. EU-weit gab es höhere Preise nur in Irland mit 98,68 Euro und Italien mit 95 bis 98 Euro.
Den Gegenpol dazu bilden die Strompreise in Norwegen und Schweden mit 32 bis 39 Euro. Die skandinavischen Länder profitieren von einer ausgebauten Wasserenergieerzeugung und dem Vorhandensein eigener Atomkraftwerke. Vergleichsweise billig ist der Strom bei der Atommacht Frankreich, wo im Juli eine Megawattstunde im Durchschnitt 47 Euro kostete.
Polen träumt ebenfalls von eigener Atomenergie, doch in den nächsten Jahren wird es sie nicht geben.
Teures Licht am Ende des Tunnels
Im Juli betrugen die Strompreise für Großverbraucher bereits 109 Euro pro Megawattstunde. Das ist immerhin billiger als im Jahr 2022, als sie mit einem Durchschnittswert von 166 Euro doppelt so hoch lagen wie im Jahr 2021.
Solche Preise sind für polnische Unternehmen vernichtend. "Polen hat einen der höchsten Festmengentarife für Strom in der EU, was größtenteils mit unserer Abhängigkeit von Kohle zu tun hat", bemerkt der Energieexperte Robert Tomaszewski.
Im Ergebnis schließen immer mehr ausländische Unternehmen ihre Produktionsstätten in Polen und ziehen an Standorte um, wo die Produktion wegen der niedrigeren Strompreise rentabler ist. Meldungen über Massenentlassungen polnischer Arbeiter durch ausländische Unternehmen erscheinen seit dem Frühjahr 2024. Die Daten der polnischen Staatlichen Statistikagentur belegen, dass insgesamt über 16.000 Mitarbeiter aus 175 Betrieben entlassen wurden.
So kündigte Anfang August der europäische Logistikgigant PKP Cargo die Entlassung von 4.000 Mitarbeitern seiner polnischen Filiale an. Indessen ist die polnische Abteilung des Unternehmens der größte Eisenbahnspediteur im Land und der zweitgrößte in der EU.
Der US-amerikanische Kleidungsproduzent Levi Strauss warnte vor der Auflösung seiner Fabrik in Płock, die über 30 Jahre in Betrieb war, und kündigte die Entlassung von 800 Mitarbeitern an. Das französische Unternehmen Michelin schließt seine Lkw-Reifenproduktion in Allenstein. Der Schweizer Konzern ABB kündigte die Schließung des Werks zur Triebwerkproduktion in Aleksandrów Łódzki und die Entlassung von 400 Arbeitern an. Der Konzern meldete außerdem die Entlassung von 600 Arbeitern in seinem Werk in Kłodzko.
Der niederländische Autohersteller Stellantis schließt die Motorproduktionsstätte in Bielsko-Biała und entlässt 500 Mitarbeiter. Der schwedische Autogigant Volvo Buses schließt die Produktion in Breslau und entlässt 400 Mitarbeiter. Das US-Unternehmen Lear Corporation, das Autositze und elektrische Systeme für Autos herstellt, löst seine Produktionsstätte in Pikutkowo auf und entlässt 960 Mitarbeiter.
Der Großteil der genannten Unternehmen verlegt die Produktion entweder in andere osteuropäische Länder oder in nordafrikanische und asiatische Staaten. Begründet wird dies damit, dass sie dazu wegen der prognostizierten Preissteigerungen für Strom, Gas und Heizung gezwungen worden seien.
"Die Probleme der polnischen Industrie nehmen zu. Polnische Unternehmer stehen im Wettbewerb mit ausländischen Unternehmen, die Zugang zu einer viel billigeren Energie haben", schreibt die Journalistin des Portals money.pl Agnieszka Zielińska. Sie sprach mit dem Leiter der polnischen Kammer für Industrieenergie und Energieverbraucher, Henryk Kaliś. Dieser beklagte, dass das Land "immer weniger Zeit habe, um die Lage zu ändern".
Im Juli wandte sich das Forum der Strom- und Gasverbraucher (FOEEiG), das die größten Industriestromverbraucher Polens vereinigt, mit einem Brief an den Ministerpräsidenten Donald Tusk. Darin listete es Risiken auf, die mit hohen Strompreisen einhergehen. "Dieser Brief war eine Art Verzweiflungsschrei. Wir wollten den Ministerpräsidenten mit der Lage der Industrie, die immer gravierender wird und die gesamte Wirtschaft beeinträchtigt und in die Rezession treibt, aufrütteln", betont Kaliś.
Es kommt noch schlimmer
Eines der Probleme der polnischen Energie besteht darin, dass sie nicht umweltfreundlich ist. So stieß Polen im Juni, um eine Megawattstunde Energie zu produzieren, 810 Kilogramm Kohlendioxid aus. Indessen plant die EU, im Zeitraum zwischen 2026 und 2034 die Vergabe von kostenlosen Genehmigungen für CO₂-Ausstoß zunehmend einzustellen. Der stellvertretende Klimaminister Krzysztof Bolesta verweist darauf, dass mit einem Verzicht auf kostenlose Genehmigungen polnische Unternehmen nicht in der Lage sein werden, diese noch zu erwerben. Der Energiesektor wird daher große Verluste erleiden.
Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Wärmekraftwerke des Staatsunternehmens "Polnische Energiegruppe" (PGE) planen, bis zum Jahr 2030 auf die Nutzung von Kohle zu verzichten. Dies teilte der Vorsitzende des Verwaltungsrats von PGE, Dariusz Marzec, mit und erklärte, dass die Wärmeenergie für Privathaushalte mithilfe moderner Elektrodenkessel produziert werden könnte, die Energie von Wind- und Solaranlagen nutzen (die berühmte "grüne Wende", die sich bisher in keinem EU-Land richtig bewährt hat).
Im Jahr 2022 heizten 46 Prozent der Polen mit Kohle. Und es geht nicht nur um Privathaushalte. Die Angaben der Branche belegen, dass mit Kohle in Polen 72 Prozent der Elektrizität erzeugt werden. Zugleich nimmt der Kohlenabbau von Jahr zu Jahr ab, weil in dieser "nicht grünen" Branche keine Investitionen mehr stattfinden und keine Modernisierung der Betriebe absehbar ist.
Vor wenigen Jahren waren auf dem polnischen Markt etwa 5.000 Lager in Betrieb, wo etwa 1,5 Millionen Tonnen Kohle bevorratet wurden. Heute gibt es nur noch 3.000 davon, und die Kohlevorräte betragen etwa 600.000 Tonnen. Alternativen zur Kohle, wenn man von der "grünen" Energie absieht, gibt es bisher nicht.
Polens Industrieministerin Marzena Czarnecka sagte, dass ein Atomkraftwerk nicht vor 2040 gebaut und in Betrieb genommen werden kann. Das ist sechs Jahre später, als ursprünglich geplant.
Henryk Kaliś besteht darauf, dass Polen zu einem von Brüssel erzwungenen Verzicht auf fossile Brennstoffe schlicht nicht bereit sei. "Niemandem sind die Maßstäbe des bevorstehenden Prozesses bewusst. In vielen Unternehmen wird der Großteil der Produktionsanlagen neu gebaut werden müssen", betont er.
In Zukunft bleiben Industrieunternehmen nur zwei Auswege – die Produktion aufzulösen oder kohlenstofffreie Technologien einzusetzen. Doch im letzteren Fall kommt die Frage auf, wer dafür zahlen wird. "In diesem Kontext müsste fast die Hälfte unserer Mittel aus dem Nationalen Rekonstruktionsplan für die Umstellung auf kohlenstoffarme Wirtschaft aufgewendet werden", erläutert Kaliś.
Piotr Soroczyński, der leitende Wirtschaftsexperte der Nationalen Handelskammer ist sich ebenfalls sicher, dass den polnischen Unternehmen schwierige Zeiten bevorstehen. "Bald werden die Kunden keine Waren und Dienstleistungen mehr kaufen, die nicht umweltfreundlich produziert wurden. Sie werden billigere oder mit einem größeren Anteil an sauberer Energie produzierte Waren wählen. Die Auswirkung könnte darin bestehen, dass wir Probleme mit dem Verkauf unserer Waren bekommen, weil wir nicht beweisen können, dass sie emissionsfrei produziert wurden", meint er und ruft dazu auf, sich nicht zu sehr auf die Atomkraft zu verlassen.
"Wenn unsere Industrie zu schrumpfen beginnt, werden wir kein einziges Atom brauchen", schlussfolgert der Wirtschaftsexperte.
Romek ist nicht mehr fröhlich
Dort, wo große Betriebe leiden, werden unweigerlich auch die einfachen Wärme-, Gas- und Stromverbraucher in Mitleidenschaft gezogen. In diesem Zusammenhang erinnert der Journalist Tomasz Mateusiak an eine Szene aus dem Kultfilm über die Zeiten der Polnischen Volksrepublik "Misia", in dem ein Lied von einem "fröhlichen Romek" erklingt. Der Protagonist des Liedes ist glücklich, ein Haus in einer Vorstadt zu haben, in dem es Wasser, Strom und Gas gibt.
"Heute hätte Romek kaum Grund zur Freude. Millionen polnischer Familien, deren Häuser an Gasleitungen angeschlossen sind, haben bereits 'Drohbriefe' erhalten. Denn so könnte man ohne Übertreibung die neuen Gasrechnungen nennen, die das polnische Öl- und Gasunternehmen PGNiG an ihre Kunden verschickte. PGNiG ist der größte Gasverkäufer in Polen. Doch seine kleineren Wettbewerber bleiben hinter dem Branchenführer nicht zurück und versprechen ebenfalls Preissteigerungen", schreibt Mateusiak in der Zeitung Onet.pl.
Seit dem 1. Juli stiegen die Gaspreise in Polen um 45 bis 47 Prozent je nach Tarif an. Gleichzeitig nehmen auch die begleitenden Abgaben zu, also die Preise für die Gasverteilung, Netzamortisation und dergleichen. Im Ergebnis nahm die Summe der Rechnungen Ende Juli im Vergleich zu Juni um 60 Prozent zu.
"Was ist passiert? Warum schnellten die Gaspreise in die Höhe? Am 30. Juni endet nämlich ihre 'Einfrierung'. Die Tarife blieben im Verlauf von fast drei Jahren unverändert – so schützte die Regierung die Polen vor den Folgen der COVID-19-Pandemie und des Ukraine-Konflikts. Doch die Regierung hat nicht vor, diese Schutzmaßnahmen weiterhin anzuwenden. Jetzt wird über die Einführung von 'Energiezertifikaten' verhandelt, die Arme und Familien mit mittlerem Einkommen erhalten sollen", erklärt der Journalist.
Diese Änderungen betrafen die Unternehmen nicht, weil für sie die Tarife gar nicht erst eingefroren wurden. Dies führte beispielsweise dazu, dass zahlreiche polnische Restaurantbetreiber pleitegingen und die Überlebenden die Preise drastisch erhöhen mussten.
"Damals warf man uns sämtliche Laster vor: Die Menschen sagten, dass wir die Preise hochgetrieben hätten und sie sich nicht einmal mehr eine Pizza leisten können. Doch das war gar nicht unsere Schuld. Für viele von uns erwies sich der Gaspreis als zu hoch. Jetzt, da die einfachen Menschen die Preissteigerung am eigenen Leibe spüren, werden sie verstehen, was los ist", rechtfertigt sich Dominik, der Betreiber eines italienischen Restaurants in der Woiwodschaft Oppeln. Offensichtlich sollte sich Polen nicht in die Konfrontation mit Russland einmischen und vermeiden, dass der Ukraine-Konflikt weiter eskaliert, um eine Energiekrise abzuwenden. Doch wie ein bekannter Scherz besagt, lässt sich das Hackfleisch nicht wieder zusammensetzen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 27. August 2024 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad.
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