Von Wladislaw Sankin
Wladimir Selenskij hat eine Wende in der Frage der ukrainischen Flüchtlinge verkündet. Eine Entscheidung darüber werde im Herbst getroffen, versprach er vor Journalisten auf einer Pressekonferenz am Dienstag. Er deutete an, dass diese Entscheidung "motivierend" zur Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat beitragen solle. Dabei plauderte er heikle Details aus seinen privaten Gesprächen mit westlichen Politikern aus.
So sagte er im Klartext, dass es "politisch günstig" für den Westen sei, kein Geld mehr für diejenigen Ukrainer auszugeben, die in ihrem Gastland keiner Arbeit nachgehen. Stattdessen sollten sie nach Hause zurückkehren, wo sie viel nutzbarer sein könnten ‒ zum Beispiel im Kampf gegen Russland.
Als Paradebeispiel für eine derartige Haltung könnte man die Position der Union in Deutschland nennen. Seit Monaten fordern vor allem die CDU-Politiker, dass eine Luxus-Vergütung in Form des Bürgergeldes zumindest den wehrfähigen Männern fortan nicht mehr zur Verfügung stehen soll.
Doch die Kürzung der Hilfsleistungen wäre in der heutigen Nervosität zweifelsohne ein bedeutungsvolles politisches Signal, das Deutschland offenbar noch nicht bereit ist zu senden. Die Frage aber, ob Deutschland für kampfunwillige, von Politik und Medien hierzulande als "Verteidiger unserer Freiheit" gepriesene Ukrainer weiterhin zahlen muss, ist in der Öffentlichkeit seit langem kein Tabu mehr.
Gleichzeitig bestritt Selenskij, dass er westliche Politiker aufgefordert habe, Männer im wehrfähigen Alter in die Ukraine zurückzuschicken. Er erklärte, dass sie diese Frage in privaten Gesprächen selbst ansprechen würden. Aber öffentlich zu sagen "Wir schicken die Ukrainer nach Hause, es ist sehr teuer für uns, sie zu unterstützen", sei politisch unrentabel.
Also beschrieb Selenskij in diesen knappen Sätzen das ganze Dilemma, mit dem sich der Westen zurzeit konfrontiert sieht. Die nicht näher genannten westlichen Kollegen Selenskijs sind ihren Wählern zunehmend die Frage schuldig, warum bei Mangel an Jobs, Kitaplätzen oder Wohnungen die Ukrainer oft beinahe als Bürger erster Klasse behandelt werden, während in ihrem gar nicht so unsicheren Land nur noch wenige kämpfen und das Land am Laufen halten müssen.
Doch als "Unbarmherzige" dastehen wollen sie offenbar auch nicht. Ob sie die Meute der Ukraine-Lobby in den Medien und der Wohlfahrtswirtschaft fürchten oder immer noch der Meinung sind, mit Willkommenskultur politische Punkte machen zu können, ist unklar. Hierzu gab der gesprächige und nicht mehr ganz so legitime Präsident weiter preis:
"Es ist einfacher, dieses Thema bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten anzusprechen und dann zu sagen, dass der Präsident um die Rückkehr der Ukrainer gebeten hat. Ich bin komplett dafür, aber ohne Zwang."
Seiner Meinung nach sollte die Ukraine 7,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Ausland zurückholen, um 10,5 Millionen Rentner zu "ernähren". Das aber, so betonte er nochmals, sollte "ohne Zwang geschehen, damit sie es tun wollen". In seinem Redeschwall plauderte Selenskij ein weiteres seiner politischen Motive für die Rückholung der ukrainischen Flüchtlinge aus.
Er will nämlich, dass die emigrierten Ukrainer in das Einflussgebiet der ukrainischen Propaganda zurückkehren. Immerhin äußerte er sich besorgt darüber, dass viele seiner Landsleute durch das Wirken der "russischen Agenturnetze" und der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht mehr glauben, dass Russland der Feind sei. Dies sei noch keine Mehrheit, versicherte er, aber offenbar scheint das Problem nun bedrohlich genug zu sein, dass er, der ausgewiesene Profi der antirussischen Propaganda, vor anderen ausgewiesenen Profis des von ihm kontrollierten Medienpools die Schwäche des ukrainischen Narrativs vom "unprovozierten Angriffskrieg" Russlands eingestehen musste.
Dieses Problem, dass die Ukrainer, solange sie auf freiem Fuß sind, die Tendenz haben, wieder zu "Russen" zu werden, besitzt auch eine ganz klare statistisch-demografische Dimension. Täglich werden hunderte einreisewillige ukrainische Bürger am Moskauer Flughafen Scheremetjewo durch FSB-Mitarbeiter einer aufwendigen Kontrolle unterzogen, die bis zu 20 Stunden dauern und nicht selten mit einer Absage enden kann ‒ so kommt es oft vor, dass auch Familien auf diese Weise zerrissen werden.
Wie viele Ukrainer bislang durch den "Filtrationspunkt" in Scheremetjewo nach Russland eingereist sind, ist nicht bekannt, aber dass es mitunter sehr viele sind, steht außer Zweifel. Die Telegram-Gruppe für den Erfahrungsaustausch zu Problemen und Tücken bei der Grenzkontrolle umfasst aktuell über 12.000 Mitglieder.
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