Von Wladislaw Sankin
Der russischsprachige Ableger des deutschen staatlichen Auslandssenders Deutsche Welle (DW) hat einen ausführlichen Bericht über das Problem der Fahnenflucht in der ukrainischen Armee veröffentlicht. Die von den ukrainischen Behörden offengelegten Zahlen hätten gefährliche Ausmaße erreicht, stellt der Sender fest. Gerechnet wird nach den eröffneten Strafverfahren.
So haben in der ersten Hälfte des Jahres 2024 die Strafverfolgungsbehörden in der Ukraine fast 29.800 neue Strafverfahren wegen der Flucht von Soldaten eröffnet: 18.600 unter dem Artikel über das unerlaubte Verlassen einer Militäreinheit und 11.200 unter dem strengeren Artikel "Desertion", so die Statistik der Generalstaatsanwaltschaft.
Der Vergleich mit den Vorjahren zeigt die stark wachsende Tendenz. Die aktuelleren Zahlen für nur sechs Monate übersteigen bereits die Zahlen für das gesamte Jahr 2023 – damals wurden 24.100 neue Ermittlungsverfahren eingeleitet – die Zahl für 2022 (9.400 Fälle) wurde mehr als verdreifacht.
Insgesamt hat die Staatsanwaltschaft seit Beginn des Jahres 2022 63.200 solcher Strafverfahren gezählt. DW rechnet vor: Vergleicht man ihre Zahl mit der von Präsident Wladimir Selenskij angekündigten Zahl von 880.000 Soldaten, lässt sich daraus schließen, dass sich während des gesamten Krieges fast jeder 14. eines dieser Vergehen schuldig macht.
Allerdings könnten diese ohnehin hohen Zahlen stark untertrieben sein, wie die befragten Offiziere berichten – Personaloffiziere und Juristen, die mit der Situation bei der Flucht von Soldaten aus ihren eigenen Einheiten vertraut sind.
"Einige behaupten, die Zahl der tatsächlichen Fälle übersteige die Zahl der Strafverfahren um das Dreifache, andere meinen sogar um das Vierfache", berichtet DW.
Danach versteigt sich der Autor des Berichts in die komplizierten behördlichen Verstrickungen bei der Strafverfolgung und lässt eigens dafür eingeholte amtliche Stellungnahmen zitieren. Auch lässt der Sender zuständige hochrangige Beamte zu Wort kommen und vermittelt damit den Eindruck, die ukrainischen Behörden handelten auch in dieser für die Verteidigung des Landes schwierigen Situation human und lösungsorientiert. Es handele sich um einen demokratischen Rechtsstaat, der versuche, zivilisiert und gesittet seine Probleme zu lösen, so könnte im Endeffekt der wohlwollende Leser am Ende des Artikels denken. "Bestrafen oder verzeihen" heißt der Bericht, denn die ukrainischen Behörden denken laut DW schon lange darüber nach, wie sie nicht mit Peitsche, wie das Gesetz eigentlich vorsieht, sondern eher mit Zuckerbrot die fahnenflüchtigen Soldaten wieder zur Verteidigung des Landes an der Front motivieren.
Über die geradezu tausendfach dokumentierten brutalen Menschenjagden auf den ukrainischen Straßen, Fälle, in denen Opfer totgeprügelt werden, und sonstige Gewalt in den Unterkünften für die Erstmobilisierten sowie zahlreichen Todesfälle bei der Flucht der Männer aus dem Land verliert der Sender dagegen kein Wort. Man könnte diese Opfer auch als ukrainische Mauertote bezeichnen, wenn man so will. Aus der Sicht des deutschen Auslandssenders wäre es aber eine maßlose rhetorische Überspitzung. Nur einmal wird anhand einer nacherzählten Geschichte erwähnt, dass ein Soldat, der seine Einheit nahe der Front verlassen hat, zwei Wochen später bei der Überquerung des Grenz-Flüsschens Tissa festgenommen und zurück in die Armee geschickt wurde.
Doch es ist nicht so, dass Deutsche Welle grundsätzlich keine Lust hätte, über den brutalen Kriegsalltag zu berichten. Horror-Geschichten über geradezu sklavenartige Zustände in der Armee liefert DW zuhauf – wenn es um Russland geht. Denn auch über die russischen Probleme bei der Fahnenflucht hat der Sender nur wenige Tage zuvor berichtet.
Auch dieser Artikel beginnt mit den Daten aus der Kartei für Strafsachen der russischen Gerichte. Diese wurden vom befreundeten pro-ukrainischen Nachrichtenportal Mediazona recherchiert: Mit Stand April dieses Jahres sind bei den russischen Gerichten mehr als 8.000 Fälle wegen unerlaubten Verlassens von Militäreinheiten und Desertion eingegangen. Von diesen 8.000 Strafverfahren wegen Flucht aus der Armee werden die meisten wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe (88 %) eingeleitet, seltener wegen Befehlsverweigerung (6 %) und Desertion (3 %). Darüber hinaus habe sich die Zahl dieser Fälle im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 verfünffacht – 700 Urteile werden pro Monat gefällt.
Ob es viel ist oder wenig? Auch wenn es schon aus logistischen Gründen objektiv viel schwieriger ist, die Positionen der russischen Armee zu verlassen und nach Hause oder sonst irgendwohin zu fliehen, sind diese Zahlen immerhin bei Weitem nicht so dramatisch wie in der Ukraine. Deutsche Welle zieht deshalb an der Schraube der Schaurigkeit und spricht mit einem ins Ausland geflohenen Deserteur und einem ebenso aus dem Ausland operierenden Menschenrechtsaktivisten, der ihm angeblich bei seiner Flucht half.
Letzterer berichtet über brutale Foltermethoden, mit denen Dienstverweigerer üblicherweise zu Disziplin gezwungen werden. "Folter und Gruben", heißt der Bericht demensprechend – "Wie Deserteure aus der russischen Armee an die Front zurückgeschickt werden". Diese Methoden reichen vom tagelangen Ausharren in den Gruben unter freiem Himmel bis hin zu Elektroschocker und Prügel.
Der ehemalige Soldat fügt dem Artikel eine weitere Note des Grauens hinzu: Seine Kampfkameraden wurden vor seinen Augen von Artilleriegranaten in Stücke gerissen, und er selbst entging mehrmals nur um Haaresbreite dem Tod. Nun befinde er sich im sicheren Ausland und wolle nach Costa Rica, wo er in der IT-Branche arbeiten wolle. Denn Russlands "umfassender Krieg" in der Ukraine sei sinnlos und grausam – diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch den Bericht hindurch. Dahinter verbirgt sich klar die Absicht, jegliche Kampfmotivation der russischen Männer zu zerstören.
Deutsche Welle hat interessante Daten geliefert, und diejenigen, die die Ukraine betreffen, wurden in russischen Medien aufgegriffen. Denn sie verfolgen grundsätzlich den pragmatischen Ansatz und nutzen alle Quellen, wenn sie Informationen liefern, die das eigene Narrativ stützen. Aus diesem Grund ist es auch wenig verwunderlich, dass der tendenziöse Artikel zur Fahnenflucht in Russland dort dagegen kaum Beachtung fand. Auch wenn der deutsche Auslandssender vorgibt, seriös zu berichten, bleibt er nach wie vor ein fester Bestandteil der psychologischen Kriegsführung des Westens.
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