Der französische Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd ist überzeugt, dass es an Deutschland ist, den Ukraine-Krieg zu beenden. In einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärte Todd:
"Es geht also darum, ob sich Deutschland von den Amerikanern löst und sich für den Frieden in der Ukraine einsetzt. Deutschland wird entscheiden, ob ein endloser Krieg weitergeht oder ob Frieden einkehrt. In diesem Sinne muss Deutschland seiner Verantwortung als Führungsmacht in Europa gerecht werden. Wir alle in Europa warten darauf, dass Berlin den Krieg beendet."
Militärisch hält der Wissenschaftler den Krieg für entschieden. Seine schon vor Monaten geäußerte Einschätzung, dass die Ukraine den Krieg verloren habe, bringt Todd von der Berliner Zeitung den Vorwurf der "Nähe zu Putin" ein – den er nicht auf sich sitzen lässt:
"Auch das weise ich zurück. Wenn ich sage, die Ukraine hat den Krieg schon verloren, dann spreche ich nur aus, was das Pentagon oder der französische Generalstab denken."
Die Russen, so Todd, würden sich noch mehr Territorium "einverleiben":
"Das Problem ist also, dass wir uns in einer Situation befinden, in der der Westen weiß, dass er den Krieg verloren hat, und trotzdem kein Frieden geschlossen wird."
Todd erklärt, dass es in Europas Interesse liege, zu einer Verständigung mit Russland zu gelangen, das für die Europäer keine Bedrohung darstelle. Die USA dagegen seien eine:
"Jeder im Westen weiß, dass Russland weder den Willen noch die Mittel hat, in Europa einzumarschieren. Das Letzte, was die Russen wollen, ist, wieder Polen verwalten zu müssen. Die Europäer könnten also einen Frieden in der Ukraine akzeptieren, das wäre in ihrem Interesse. Aber für die Amerikaner wäre das katastrophal. Würden die Russen ihre Ziele in der Ukraine erreichen, wäre Amerika in den Augen der Welt von einer ebenbürtigen Macht besiegt worden. Und das würde höchstwahrscheinlich zum Zusammenbruch des gesamten amerikanischen Weltsystems führen."
In Wirklichkeit, so Todd, gehe es nicht um die Europäer, sondern um Deutschland, das neben Japan eine der Säulen des US-amerikanischen Herrschaftssystems sei.
Die Vorgeschichte des Krieges beschreibt der Historiker so:
"Anfang der 2000er-Jahre gab es eine Annäherung zwischen Europa und Deutschland auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Dass Schröder, Putin und Chirac gemeinsam eine Front gegen den Irakkrieg bildeten, hat die Amerikaner aufgeschreckt. Sie befürchteten, dass sich eine der größten Industriemächte der Welt, Deutschland, mit einer der größten Energiemächte der Welt, Russland, zusammentun und Amerika gewissermaßen aus Europa verdrängen würden. Deutschland musste also aus der Sicht Washingtons von Russland getrennt werden. Indem man die Russen zur Intervention in der Ukraine drängte, gelang dies schließlich. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines ist das Sahnehäubchen."
Den empörten Einspruch der Berliner Zeitung, zu sagen, Russland sei zum Eingreifen gedrängt worden, klinge nach "Putin-Propaganda", wischt Todd beiseite. Er sehe sich als Historiker die Fakten an und ziehe daraus seine Schlüsse:
"Vor dem Februar 2022 gab es eine Ausdehnung der NATO nach Osten. Im Zusammenhang mit dem Maidan haben die Amerikaner dann direkt in der Ukraine interveniert. Die ukrainischen Nationalisten und ein Teil der amerikanischen politischen Klasse haben sich gegenseitig in ihrer Russophobie hochgeschaukelt und damit eine teilweise irrationale Dynamik in Gang gesetzt. Am Ende war eine Situation entstanden, in der die NATO de facto damit begonnen hatte, die ukrainische Armee bis an die russische Grenze aufzurüsten. Die Russen hatten angekündigt, dass sie eine in die NATO integrierte Ukraine nicht tolerieren könnten. Sie hatten gewarnt, dass sie in einem solchen Fall eingreifen würden."
Befragt, ob man derzeit in der Ukraine den "Fall des Westens" (so der Titel von Todds aktuellem Buch) erlebe, stellte der renommierte Wissenschaftler klar, dass der Niedergang des Westens "ein innerer Zerfall mit Amerika im Zentrum" sei. Todd, der bereits 1976 den Zerfall der Sowjetunion vorhergesagt hatte, weil ihm unter anderem die dort steigende Kindersterblichkeit aufgefallen war, unterlegt auch seine aktuelle Diagnose mit Daten.
So sei die Kindersterblichkeit in Russland heute niedriger als in den USA. Die durch den Dienstleistungssektor aufgeblähten Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt täuschten über die "große Schwäche" in der realen industriellen und landwirtschaftlichen Produktion des Westens hinweg. Noch schlimmer sehe es im Bildungsbereich aus:
"Dort sinkt das Bildungsniveau seit 1965, die Zahl der Studenten stagniert, und Tests zeigen, dass der Intelligenzquotient sinkt. Die Amerikaner bilden heute oft keine Ingenieure mehr aus, sondern Juristen und Börsianer. Für mein Buch habe ich mir die Zahlen angeschaut und festgestellt, dass Russland mit weniger als der Hälfte der Bevölkerung mehr Ingenieure ausbildet als die USA."
Als Ursache für den Niedergang des Westens sieht Todd "nihilistische Impulse" beim Übergang vom Kapitalismus zum neoliberalen Finanzkapitalismus:
"Ab einem gewissen Punkt ist es völlig irrational, dass Menschen Unmengen von Geld anhäufen wollen, nur um des Geldes willen. Vor allem aber hat der Neoliberalismus in der Praxis Wirtschaft und Gesellschaft zerstört. Thatcher hat selbst gesagt, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt, das ist ein nihilistisches Bekenntnis. Außenpolitisch drückt sich diese Haltung in der Bevorzugung des Krieges gegenüber dem Frieden aus."
Anders als andere Beobachter geht der Franzose nicht davon aus, dass die USA nach der absehbaren Niederlage in der Ukraine einen weiteren Krieg mit China anzetteln:
"Sie haben einfach nicht die Mittel dazu. Ein Krieg zwischen China und den USA im Südchinesischen Meer wäre in wenigen Stunden vorbei, die Chinesen würden die amerikanischen Flugzeugträger mit Hyperschallraketen problemlos versenken."
China werde die USA allerdings nicht als Weltmacht ablösen, weil die Chinesen mit erheblichen demografischen Problemen zu kämpfen hätten. Die künftige Welt werde eine multipolare, die sich keine Kriege mehr leisten könne.
Am Anfang des Gesprächs äußert sich der Franzose auch zur Lage in seinem Heimatland. Auf die Frage, ob er die Sorgen vieler Deutscher vor dem Aufstieg des Rassemblement National von Marine Le Pen teile, winkt Todd ab:
"Nein, denn ich halte die Wahlen in Frankreich schon lange für eine Komödie. Das Land ist nicht mehr wirklich souverän, weil es weder über seine Geldpolitik noch über seine Handelspolitik entscheiden kann."
Wegen der EU-Verträge würden entscheidende Dinge wie die Währungs- oder Handelspolitik in Brüssel entschieden, nicht in Paris. Die Wahlen seien deshalb, so wiederholt er, eine "Komödie". Aus seiner Verachtung für den derzeitigen Präsidenten und seine Vorgänger macht Todd keinen Hehl:
"Wir hatten die Sarkozy-Komödie: ein hysterischer Mann, der ständig von seiner Frau sprach und die Vorstädte "säubern" wollte. Dann hatten die Franzosen genug davon und es kam Hollande, der sagte, sein Feind sei die Finanzwelt und er sei ein ganz normaler Typ. Jetzt haben wir Macron, der sagt: "Ich bin jung, ich mag die Banken und ihr seid alle dumm." In der Praxis hat sich jedoch nichts geändert, die französische Politik wird weiterhin von den finanziellen Zwängen Brüssels bestimmt."
Todd, Jahrgang 1951, ist einer der bekanntesten Historiker und Anthropologen Frankreichs. Er arbeitete am "Nationalen Institut der Bevölkerungsstudien" (INED) und befasste sich unter anderem mit den verschiedenen Familienstrukturen auf der Welt und ihren Einfluss auf Überzeugungen, Ideologien, politische Systeme und historische Ereignisse. Todd ist Autor zahlreicher Bücher. Sein neuestes Buch "Der Fall des Westens" erscheint im Oktober 2024 in deutscher Übersetzung im Westend Verlag.
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