"Des Krieges überdrüssig" – Ukrainische Blogger mit Millionenpublikum plädieren für Ende des Krieges

Der Raketeneinschlag in der Kinderklinik Ochmatdit in Kiew hat unerwartete Folgen: Nachdem die Ukraine Russland des Angriffes beschuldigt hatte, traten mehrere populäre Instagram-Blogger für die Beendigung des Krieges auf. Der "Butscha"-Effekt ist ausgeblieben.

In der Ukraine tobt ein Internet-Skandal: Mehrere populäre Lifestyle-Blogger mit Millionenpublikum sprachen sich nach den russischen Luftangriffen auf Kiew am 8. Juli für die Beendigung des Konflikts mit Russland aus. Sie seien "des Krieges überdrüssig" und wünschten, dass "die Politiker sich untereinander einigen", weil alle "diese politischen Spiele satthaben", so lautete deren Meinung unter dem Strich. Erwartungsgemäß wurden sie des Verrates beschuldigt. Doch scharfe Repressionen haben sie nicht zu befürchten, denn nun ist die Katze aus dem Sack: So massenwirksam klang noch keine andere Meinung zum Krieg seit Februar 2022.

Bemerkenswert: Keiner der Blogger hatte sich zuvor mit politischen Themen beschäftigt. Sie hatten sich politisch konform verhalten, die ukrainische Sprache gesprochen, manche hatten sogar für die Armee gespendet – und plötzlich das. Der Auslöser für ihre Beiträge war der angebliche russische Angriff auf das Kinderkrankenhaus Ochmatdit in Kiew (über die Reaktion Russlands lesen Sie hier).

Die Schauspielerin und Bloggerin Wladislawa Rogowenko (eine Million Follower auf Instagram) sagte beispielsweise, sie "hasse die Regierungen auf beiden Seiten", und beschimpfte Wladimir Selenskij als "Clown".

Julia Werbynez, eine Beauty-Bloggerin aus dem Westen des Landes (2,1 Millionen Follower), beschuldigte die ukrainischen Behörden des Diebstahls. "Die Welt sieht zu und tut nichts. Unser Land wird von unserer eigenen Regierung beraubt. Kinder und andere Menschen sterben. Familien und Leben werden zerstört, Pläne und Träume."

Der Blogger Alexander Woloschin (eine Million Follower) wiederum sagte, dass "wir diesen Krieg nicht aushalten, und wir müssen klüger sein. Wir müssen verdammt schlauer sein in diesem ganzen Spiel, denn es ist ein Spiel. Wir müssen nach deren Regeln spielen und die (die Gegner) dann irgendwann verdammt wütend machen, dass sie in der Tat nach unseren gespielt haben".

Die Bloggerin Mila Barajewa (221.000 Follower) schrieb, dass "es mir egal ist, wie es aufhört, solange keine Kinder sterben". Wortwörtlich: "Hört endlich damit auf. Es ist mir egal, wie, solange keine Kinder mehr durch eure @f...ing@ politischen Spiele sterben."

Die Schauspielerin Natalka Denisenko (403.000 Follower) sprach von der "Opferenergie, die zum Krieg geführt hat". "Die Energie der Aggression und der Flüche und des Hasses, die in uns aufsteigen, zerstört uns." Insbesondere diese selbstkritische Aussage wurde von den Medien als antiukrainisch und "kremlnah" interpretiert.

Auch andere Blogger mit Massenpublikum äußerten sich ähnlich. In den sozialen Medien brachen Diskussionen aus, natürlich hagelte es Kritik, und manche der Blogger bekamen schon "Besuch" der Behörden. Aber Lob und Zuspruch überwogen. Schließlich meldete sich eine Vertreterin der älteren Generation der Blogger, die 43-jährige Anna Alchimowa (800.000 Follower) zu Wort.

Sie nahm ein Video auf, in dem sie furchtlos erklärte: "Euer 'peremoschemo' ('wir werden siegen' auf Ukrainisch) ist ärgerlich, ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die das so sieht. Wann ist 'peremoschemo'? Ist es, wenn man eine Menge Geld 'stiehlt' (das schmutzige Wort wurde ersetzt), wenn vom Land nichts mehr übrig ist, keine Menschen, keine Kinder mehr?"

Das ukrainische Nachrichtenportal Strana stellte fest, dass die Aktion der Blogger die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft widerspiegelt, in der es seit letztem Herbst immer mehr Befürworter einer baldigen Beendigung der Feindseligkeiten gibt, auch wenn dies den Verlust eines Teils des Landes bedeutet.

Der ukrainische Politologe Ruslan Bortnik erklärte, warum die Stimmung ausgerechnet jetzt "explodiert" ist. "Die Müdigkeit, ja sogar die Verärgerung wächst bei vielen Menschen, sie sehen keine guten Auswege aus der aktuellen Situation", sagte er. "Obwohl solche Veröffentlichungen viele Gegner haben und sogar gefordert wird, dass solche Blogger vom ukrainischen Sicherheitsdienst aufgegriffen werden, wollen zu viele Menschen ein Ende des Konflikts, und es ist unwahrscheinlich, dass diese Diskussion in der Gesellschaft unterdrückt wird", so Bortnik.

Laut der russischen Journalistin, Menschenrechtlerin und RT-Autorin Marina Achmedowa geben die Blogger in erster Linie nicht ihre eigene, sondern die Meinung ihres Publikums wider. "Die Blogger mit Millionen Followern sind Menschen, die die Nase in den Wind halten, die die Stimmungen ihres Publikums spüren und sie zum Ausdruck bringen, sonst wären diese Millionen nicht zu ihnen gekommen", schrieb sie in einem RT-Beitrag.

Sie wies darauf hin, dass der ukrainische Propaganda-Apparat versuchte, den Raketenschlag auf dem Gelände der größten ukrainischen Kinderklinik Ochmatdit am Vorabend des NATO-Gipfels als russische Gräueltat darzustellen und die Gesellschaft nach dem "Butscha"-Prinzip noch stärker im Kampf gegen die "Besatzer" zu mobilisieren. Doch dieses Mal sei das misslungen.

"Und wenn es ihnen gelungen ist, ihre Angst vor dem mächtigen Strafmechanismus, der in der Ukraine wirkt, zu überwinden, dann bedeutet das, dass Millionen von Menschen Frieden wollen. Was die Blogger gesagt haben, ist die Stimme des Volkes. Die Reaktion von Millionen kann nicht aufgehalten werden. Jetzt werden die Blogger zum (Geheimdienst) SBU zitiert, aber schon bald werden wir in der Ukraine heftige Diskussionen erleben – über Krieg und Frieden."

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