Litauen, Lettland, Estland sowie Polen fordern Brüssel zur Errichtung einer Verteidigungslinie entlang der EU-Grenzen zu Russland und Weißrussland auf. Dies teilte die Nachrichtenagentur Reuters mit Bezugnahme auf ein Schreiben der Staats- und Regierungschefs der vier Länder an EU-Ratspräsident Charles Michel mit. Vorgebliches Ziel ist es, die EU-Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerung von 450 Millionen Menschen vor allem vor angeblichen militärischen Bedrohungen seitens Russlands und Weißrusslands zu schützen.
"Die Errichtung einer Verteidigungsinfrastruktur entlang der EU-Außengrenze zu Russland und Weißrussland wird den dringenden Bedarf angehen, die EU vor militärischen und hybriden Bedrohungen zu schützen", heißt es in dem Schreiben der vier Staats- und Regierungschefs, das Reuters vorliegt. Diese hybriden Bedrohungen umfassten eine Kombination von militärischen, nichtmilitärischen sowie verdeckten und offenen Mitteln, zitiert das Blatt. Genannt werden unter anderem die Verbreitung von Desinformation, Cyberangriffe, wirtschaftlicher Druck und das Drängen von Migranten über die Grenzen.
EU-Diplomaten schätzen die Kosten für die 700 Kilometer lange Verteidigungslinie auf rund 2,5 Milliarden Euro. Laut der Nachrichtenagentur soll das Projekt auf dem EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag und Freitag erörtert werden. Der Schwerpunkt des Treffens seien EU-Investitionen in die Verteidigung und deren Finanzierung, so Reuters. Die Planung und Umsetzung des Projekts werde in Abstimmung mit der NATO und ihren militärischen Forderungen realisiert, heißt es in dem Schreiben.
Der Aufruf zum Bau der Verteidigungslinie an der EU-Ostgrenze stehe im Einklang mit einer früheren Initiative Griechenlands und Polens zur Schaffung eines EU-Luftverteidigungssystems nach dem Vorbild von Israels Raketenschutzschild Iron Dome, so Reuters. Die Einrichtung solle die derzeit einzelnen Luftverteidigungssysteme der EU-Staaten koordinieren.
Den Vorschlag, ein europaweites Luftabwehrsystem zu schaffen, haben der polnische Premierminister Donald Tusk und sein griechischer Amtskollege Kiriakos Mitsotakis bereits Ende Mai in einem gemeinsamen Schreiben an Ursula von der Leyen vorgelegt. Die Bedeutung der Luftverteidigung sei für Polen, das an die Ukraine grenze und in dessen Luftraum Raketen eingedrungen seien, in den Vordergrund getreten, zitierte Reuters.
Von der Leyen erklärte, dass die EU mehr gemeinsame Projekte brauche und befürwortete "einen Luftschutzschild für ganz Europa, wie er von Mitsotakis und Tusk vorgeschlagen wurde". Mitsotakis und Tusk forderten, dass das Thema auf dem EU-Gipfel Ende Juni erörtert wird.
Iron Dome ist ein taktisches Luftabwehrsystem mit einer Reichweite von etwa 70 Kilometern. Der Raketenabwehrschirm wird zum Schutz vor ungelenkten taktischen Raketen mit einer Flugreichweite von 50 bis zu 200 Kilometern eingesetzt. Das System schützt Israel seit 2011 gegen Raketenangriffe.
Polen erarbeitet auch eigene Projekte zum Schutz des Landes vor einer angeblichen Bedrohung durch Russland. Ende Mai hatte Warschau einen Plan mit der Bezeichnung "Ostschild" vorgestellt, der 2,43 Milliarden Euro kosten soll. Das Programm zur Verstärkung der Verteidigungsanlagen entlang der Ostgrenze zu Weißrussland und Russland soll bis 2028 abgeschlossen sein.
Das System umfasse Verteidigungs- und Abschreckungsmaßnahmen, erklärte der polnische Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz auf einer Pressekonferenz. "Wir werden auch moderne Anti-Drohnen- und Aufklärungssysteme kaufen und einsetzen", sagte er. "Dies ist die größte Operation zur Stärkung der polnischen Ostgrenze, der Ostflanke der NATO, seit 1945."
Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, hat die Aufforderung zum Bau einer Verteidigungsinfrastruktur an der EU-Ostgrenze auf ihrem Telegram-Kanal kommentiert. Ihrer Meinung nach sei es am wichtigsten, "dass die Verteidigungslinie mit den Stacheln nach innen gebaut" werde.
Im Februar erklärte Wladimir Putin in einem Interview mit dem US-amerikanischen Journalisten Tucker Carlson, dass die NATO-Staaten versuchten, die eigene Bevölkerung mit einer "imaginären russischen Bedrohung" einzuschüchtern. "Kluge Leute sind sich im Klaren, dass es ein Fake ist. Die russische Bedrohung wird geschürt", sagte der russische Präsident. Außerdem betonte Putin, Russland habe kein Interesse daran, die Nachbarländer und NATO-Mitglieder Polen oder Lettland oder "sonst wo" anzugreifen.
Mehr zum Thema - Financial Times: NATO-Luftabwehr hat im Osten nur fünf Prozent der erforderlichen Kapazität