Von Jewgeni Posdnjakow
Der Westen ist weiterhin sehr besorgt über die NATO-Kampffähigkeit. Der britischen Zeitung Financial Times zufolge ist das tatsächliche Potenzial der europäischen Armeen um ein Vielfaches geringer, als das auf dem Papier deklariert wird (Bezahlschranke). Im Falle eines direkten Konflikts mit Russland könnten die NATO-Mitglieder etwa 300.000 Streitkräfte einsetzen und nicht fast 2 Millionen Soldaten, wie die Militärführung erwartet. Wie verlässlich sind diese Zahlen, wie sieht die Realität in den europäischen Armeen aus und was ist der Grund für die sinkende Kampfbereitschaft?
"Auf dem Papier haben die europäischen NATO-Mitglieder 1,9 Millionen Soldaten, aber Analysten sagen, dass sie in der Realität kaum mehr als 300.000 Soldaten im Falle eines Konflikts einsetzen könnten", so die Financial Times. "Angeblich reicht das aus, um Russland entgegenzutreten, aber selbst dann würde es Monate dauern, sie [die Streitkräfte] entsprechend auszubilden", so Analysten der Financial Times.
"Die NATO-Verteidigungsplanung in Europa beschränkte sich im Laufe der Jahre auf das Folgende: 'Seid ihr bereit, 300 Spezialkräfte für Afghanistan bereitzustellen?' Und das hatte nichts mit Masseneinsatz zu tun. Es wurden Probleme geschaffen. Bis auf Griechenland und die Türkei sind die Armeen auf dem gesamten Kontinent Jahr für Jahr geschrumpft", sagte Camille Grand, ehemalige Assistentin des NATO-Generalsekretärs.
Die Stärke der Streitkräfte, auch wenn sie technologisch auf dem neuesten Stand seien, sei nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Sodass es von großer Aktualität sei, mehr Europäer an die Flanken der NATO zu holen – vor allem, wenn die Unterstützung der USA nicht garantiert werden könne, fügte Grand hinzu.
"Wenn es zu einer Krise kommt, müssen wir die russische Seite davon überzeugen, dass nicht nur die polnische Armee ihr im Wege steht."
Der ehemalige Militär und Mitarbeiter des IISS [Internationales Institut für strategische Studien], Ben Barry, merkte dazu an, dass sich die europäischen Länder auf die Erhöhung der Militärbudgets konzentrieren, aber nur wenige von ihnen das Ziel verfolgen würden, die Stärke der Armeen zu vergrößern. Die europäischen Streitkräfte hätten nun "eine kritische Masse erreicht", bei der die Qualität der Arbeit aufgrund von Personalmangel insgesamt sinke. Dies habe zur Folge, dass aktive Militärangehörige enttäuscht seien und den Militärdienst quittierten.
Nach Angaben der Financial Times wurde die britische Armee in den letzten zehn bis elf Jahren um 19 Prozent auf 138.000 Mann reduziert, während die Unterhaltungsausgaben um 20 Prozent gestiegen sind. Gleichzeitig schrumpfte die französische Armee um 8 Prozent auf 203.000 Mann. Die Zahl der italienischen Streitkräfte sank im gleichen Zeitraum von 200.000 auf 160.000 und in Deutschland von 200.000 auf 180.000 Mann.
Vor diesem Hintergrund wird in den westlichen Medien zunehmend über die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert. Es wird vorgeschlagen, sich am sogenannten schwedischen oder norwegischen Modell zu orientieren, wo es den lokalen Regierungen gelungen ist, junge Menschen für den Dienst an der Waffe zu gewinnen. Dies sei aber, wie die Analysten der Financial Times anmerken, eher eine Ausnahme von der Regel.
Die Expertengemeinschaft stellt fest, dass die europäischen Länder selbst die Verringerung ihrer Armeen beschleunigt hätten und es nun äußerst schwierig sei, diesen Rückstand aufzuholen. Diese Aufgabe erfordere nicht nur enorme Investitionen, sondern auch eine ideologische "Aufarbeitung" der Durchschnittsbürger, die nicht im Militär dienen wollten.
"Eigentlich gibt es für die EU-Länder keinen Grund, diese Daten zu niedrig zu melden. Unter den heutigen Bedingungen ist es äußerst schwierig, solche Informationen vor potenziellen Gegnern zu verbergen", so Wadim Kosjulin, Militärexperte und Leiter des Instituts für aktuelle internationale Probleme an der Diplomatischen Akademie des Außenministeriums.
Nach Einschätzung des Gesprächspartners leidet die NATO tatsächlich unter einem Mangel an Militärpersonal. "In den westlichen Ländern hat der Militärdienst an Prestige verloren. Militärische Berufe sind schlecht bezahlt. Junge Menschen zögern, zum Militär zu gehen, und bevorzugen andere Karrierewege. Auch bei der Finanzierung gibt es riesige Probleme: Selbst für die Modernisierung alter Waffen ist nicht genug Geld vorhanden", so der Experte.
"Aus diesem Grund sind die EU-Staaten so besorgt über dieses Thema. In Deutschland wird zum Beispiel über die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht gesprochen. Man versucht, solche Maßnahmen mithilfe von Propaganda zu rechtfertigen. Die Öffentlichkeit soll von den aggressiven Absichten Russlands überzeugt und durch einen möglichen Angriff aus Moskau eingeschüchtert werden", so der Gesprächspartner.
Die ideologische "Aufarbeitung" zeige laut Kosjulin erste Erfolge: Die Bevölkerung sei nun bereit, "den Gürtel enger zu schnallen", um sich auf einen möglichen Konflikt vorzubereiten. "Immer mehr NATO-Länder nähern sich der Vorgabe, 2 Prozent des BIP für Militärausgaben aufzuwenden. Theoretisch könnte dies zu einer Vergrößerung der Armee beitragen", prognostiziert der Experte.
Ihm zufolge ist die Diskrepanz zwischen der dokumentierten und der tatsächlichen Größe des Militärkontingents auf bürokratische Peripetien zurückzuführen. "Die Militärs vor Ort sind über die Verfügbarkeit einer bestimmten Anzahl von Brigaden informiert. Sie wissen, dass sie nach den Standards 100 Mann umfassen sollten, und sie gehen auch davon aus", versicherte der Informant.
In der Realität seien die Militäreinheiten jedoch nicht vollständig bemannt, was zu einer Differenz bei den Gesamtzahlen führe. "Man sollte die Gesamtmacht der NATO nicht unterschätzen. Die europäischen Staaten haben immer noch eine Menge Waffen. Natürlich mangelt es ihnen an Militärpersonal, aber wir haben es immer noch mit einem sehr ernst zu nehmenden Gegner zu tun", warnt Kosjulin.
Der deutsche Politiker Waldemar Herdt wiederum hält die von der Financial Times veröffentlichten Daten für zutreffend. Seiner Meinung nach sei es nicht mehr trendgemäß, in der Bundeswehr zu dienen.
"Dazu hat auch die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht beigetragen. Außerdem wurde die Vaterlandsliebe in Deutschland über viele Jahre abgetötet. Gerade das ist aber eine zwingende Eigenschaft für einen Soldaten", erklärte Herdt.
Die Diskrepanz in den Daten betreffe den Unterschied zwischen dem eigentlichen Militär und dem Dienstpersonal:
"Es ist etwas anderes, einen Panzer zu warten, als ihn zu bedienen", sagte der Politiker. "Vielleicht war diese Fehleinschätzung der Grund für das bittere Resultat."
"Die meisten NATO-Länder haben die Wehrpflicht schon längst abgeschafft. Überall gibt es nur noch Berufsarmeen. Hinzu kommt, dass sich die Europäer seit 30 Jahren nicht mehr auf einen echten Krieg vorbereitet haben und nun beginnen, die Sachlage neu zu bewerten. Die tatsächlichen Fähigkeiten der NATO ohne die USA werden eher gering eingeschätzt", ergänzt der deutsche Politikwissenschaftler Alexander Rahr.
Die NATO-Gesamtstärke, so der Experte, hänge von vielen Faktoren ab, darunter die militärischen Ressourcen der Bündnisstaaten, ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit sowie die Qualität der Strategieplanung und der Streitkräfteausbildung. Die NATO sei nach wie vor das stärkste Militärbündnis der Welt, doch der größte Teil der Bündnisausgaben werde von den Vereinigten Staaten getragen, die im Falle eines Krieges die Militäraktionen der anderen Verbündeten koordinieren würden.
"Meiner Meinung nach wurden diese Zahlen von den Autoren der Financial Times heruntergespielt. Wenn man das Streitkräftepersonal der größten europäischen NATO-Länder zusammenzählt, kommt man auf Zahlen nahe einer Million. So beläuft sich beispielsweise die Zahl der Streitkräfte Polens, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Italiens auf etwa 932.000 Mann", erinnerte Iwan Kusmin, Autor des Branchen-Telegram-Kanals "Unser Freund Willie" und Experte in Deutschland.
"Sollte die Untertreibung der Daten in dem Financial-Times-Artikel absichtlich erfolgt sein, so ist sie wohl kaum darauf ausgerichtet, Russland zu täuschen. Wahrscheinlich zielt die alarmierende Stimmung unter anderem darauf ab, die Aufmerksamkeit auf das Problem der mangelnden Bereitschaft der europäischen Armeen für echte Kampfeinsätze zu lenken", so der Gesprächspartner.
Bemerkenswert sei auch, dass solche Überlegungen "im Vorfeld der US-Wahlen auftauchten, von denen viele erwarten, dass Donald Trump wieder an die Macht kommen wird."
"Die wichtigsten EU-Länder werden dann noch mehr Verantwortung für die Gewährleistung der Sicherheit auf dem europäischen Territorium übernehmen müssen. Mit dem Artikel soll daher auf die erforderliche Stärkung der europäischen Armeen aufmerksam gemacht werden", meint der Experte.
Er erinnerte auch daran, dass die Streitkräfte in Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Italien reduziert worden seien. Die Zahl der polnischen Militärs sei hingegen "im Zeitraum von 2015 bis 2024 von 95.000 auf 215.000 Mann gestiegen."
"Die europäischen NATO-Mitglieder widmen der Ostflanke des NATO-Bündnisses besondere Aufmerksamkeit. Bezeichnend ist, wie aktiv sich Deutschland am Ausbau der NATO-Präsenz in Litauen beteiligt. Bis 2027 sollen dort 5.000 deutsche Militärs dauerhaft stationiert werden", so der Experte abschließend.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 27. Juni 2024 zuerst bei der Zeitung Wsgljad erschienen.
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