Von Anastassia Kulikowa und Jewgeni Posdnjakow
In der Nähe der russischen Grenzen übt die NATO den Einsatz von Atomwaffen gegen russisches Territorium. Nach Angaben von Armeegeneral Wladimir Kulischow als der erste stellvertretende Direktor und Leiter des FSB-Grenzdienstes wurden nicht nur die Zahl der Einsatz- und Gefechtsübungen des Militärs für den Fall einer Konfrontation mit Russland erhöht, sondern auch die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der NATO verstärkt.
Es ist nicht das erste Mal, dass westliche Länder die Situation anheizen. So besuchte der britische Außenminister David Cameron Anfang Mai Kiew und erklärte, die ukrainischen Streitkräfte dürften die von London bereitgestellten Waffen für Angriffe auf russisches Territorium einsetzen. Seiner Meinung nach habe die Ukraine jedes Recht dazu, weil sie ihre eigene Souveränität verteidige, berichtete Reuters.
Emmanuel Macron räumte seinerseits in einem Interview mit The Economist die Entsendung eines französischen Kontingents in die Ukraine ein. Allerdings nur, wenn Selenskijs Büro selbst um eine solche Unterstützung ersuche oder nachdem "das russische Militär die Frontlinie durchbrochen hat".
Als Reaktion darauf organisierte das russische Verteidigungsministerium auf Anweisung von Präsident Wladimir Putin Übungen, bei denen der Einsatz von sogenannten taktischen, also nicht strategischen Atomwaffen geübt wurde. Die erste Phase wurde bereits im südlichen Militärbezirk durchgeführt. Das militärische Personal übte Kampfaufgaben, um entsprechende Spezialsprengköpfe für Iskander-Raketenkomplexe aufzunehmen und sich verdeckt zu Abschusspositionen zu bewegen.
Die Einheiten der Luft- und Weltraumstreitkräfte übten die Ausrüstung von Waffensystemen mit speziellen Spezialsprengköpfen, darunter mit Hyperschall-Flugkörpern vom Typ Kinshal, sowie Flugpatrouillen in potenziellen Einsatzgebieten. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die Übungen sollten Soldaten und Ausrüstung darauf vorbereiten, "die territoriale Integrität und Souveränität" der Russischen Föderation als Reaktion auf provokative Äußerungen des Westens unbedingt zu gewährleisten.
Nachdem die Pläne für die russischen Übungen bekannt wurden, erklärte Dmitri Peskow als Sprecher des russischen Präsidenten, dass die Ereignisse mit einer "noch nie dagewesenen Zunahme der Spannungen" zusammenhingen. Demnach wurden sie gerade durch die jüngsten Äußerungen der französischen und britischen Staatsführer provoziert.
Experten zufolge sollte dieser Schritt aufseiten Moskaus den Eifer des Westens abkühlen und eine Signalwirkung haben. Es scheint jedoch, dass die Gegner Russlands einen anderen Weg gewählt haben. "Unsere Grenzen sind heute ein Bereich, in dem wir jederzeit mit einem plötzlichen feindlichen Angriff rechnen können. Zu diesem Zweck setzen wir taktische Nuklearwaffen und andere schwere Waffen ein, mit denen wir jeden Angriff abwehren können", erklärte Wladimir Dshabarow als erster stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für internationale Angelegenheiten des russischen Föderationsrates gegenüber Lenta.ru.
"Angesichts der gegenwärtigen operativen Situation sind wir uns dessen bewusst, wir bauen verstärkte Verteidigungseinrichtungen auf und unternehmen alles, um Überraschungen in Form des einen oder anderen Angriffs von NATO-Ländern auf unser Territorium zu vermeiden ", sagte er.
Erst die NATO habe Russland zu den Übungen gezwungen, sagte Konstantin Siwkow, Doktor der Militärwissenschaften in einem Gespräch mit der Zeitung Wsgljad: "Dem ging eine ganze Kette von Ereignissen voraus. Alles begann mit Camerons Erklärung, die es den ukrainischen Streitkräften erlaubte, britische Waffen für Angriffe auf russisches Territorium einzusetzen."
"Anschließend warnte das russische Außenministerium, dass als Reaktion auf solche ukrainischen Angriffe alle militärischen Einrichtungen und Ausrüstungen Londons auf dem Gebiet der Ukraine und außerhalb des Landes angegriffen werden könnten. Zudem begann das russische Verteidigungsministerium mit der Durchführung von Übungen zum Einsatz nicht-strategischer Atomwaffen", erläuterte Siwkow weiter.
"Man kann sagen, dass Moskau die westlichen Politiker vor die Wahl stellte: weitere Ausweitung des Konflikts oder Deeskalation", konstatiert der Analyst. Seiner Meinung nach entschied sich der Westen für die erste Option. Darauf würden mehrere Faktoren hindeuten: "Erstens rief Jens Stoltenberg dazu auf, der Ukraine einen Schlag gegen Russland zu erlauben. Das ist in der Tat eine ausgesprochene offene Aggression gegen unser Land. Zweitens wird die NATO in der Nähe der Grenzen Russlands aktiv und übt den Einsatz von Atomwaffen."
Siwkow räumt ein, dass diese Ereignisse den Übergang zu einer Phase der praktisch unkontrollierten Eskalation des Konflikts kennzeichnen könnten. Der Militärexperte betont jedoch zugleich: Russland sei in der Lage, sich selbst zu verteidigen. "Wir haben einen enormen Vorteil gegenüber dem Feind, sowohl was die taktischen Nuklearwaffenträger als auch die Munition angeht."
"Der Westen setzt seine taktischen Flugzeuge F-16 und F-35 ein. Das ist ein Standardziel für unser gestaffeltes Luftabwehrsystem, wir können es abwehren. Frankreich hat die Dassault Mirage 2000N, die in der Lage ist, verschiedene Atomwaffen zu tragen. Auch diese Ziele werden zerstört. Wir verfügen über S-300, S-350 Witjas und S-400 Komplexe", betonte der Militärwissenschaftler. Wir können taktische Atomwaffen mittels "Kinshal" und "Iskander" einsetzen. Es gibt auch die Marschflugkörper Ch-101 und die Ch-102 mit einem nuklearen Sprengkopf." Der Gesprächspartner forderte die europäischen Politiker auf, an die Konsequenzen zu denken:
"Die NATO-Länder sind nicht zum Krieg mit Russland bereit. Aber wenn sie in den Konflikt eingreifen, wäre die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass der Einsatz von taktischen Atomwaffen droht."
"Man sollte bedenken, dass NATO-Militärübungen mit praktischem Einsatz taktischer Atomwaffen einen bedeutenden Schritt der Eskalation darstellen würden. In früheren Strategien wurden taktische Nuklearwaffen als Warnsignal betrachtet, da ein Übergang zum Einsatz strategischer Nuklearwaffen nicht ausgeschlossen wurde", erinnerte Alexander Bartosch, ein korrespondierendes Mitglied der Akademie der Militärwissenschaften.
Generalmajor Wladimir Popow, ein verdienter Militärflieger Russlands, vertritt einen ähnlichen Standpunkt. Seiner Meinung nach tut die NATO weiterhin alles, um die Situation anzuheizen und den Konflikt zwischen dem NATO-Block und Russland zu eskalieren. Der Gesprächspartner räumt ein, dass die NATO-Länder bei Militärübungen verschiedene Szenarien durchspielen können.
"Eines davon könnte ein Verteidigungsszenario sein. Demnach üben die an Russland angrenzenden NATO-Mitglieder die Verteidigung ihrer Grenzen. Ein anderes Szenario kann eine Offensive bedeuten. In diesem Fall besteht das Ziel darin, die für die Operation erforderlichen Kräfte und Mittel zu ermitteln."
Demnach gab es im NATO-Bündnis bereits früher derartige Veranstaltungen, die aber jetzt – vor dem Hintergrund militaristischer Äußerungen westlicher Politiker und der Bereitschaft einiger Länder zur Stationierung von US-Atomwaffen – von besonderer Bedeutung sind.
"Wir sehen, dass Polen Bunkerbefestigungen baut und auch die baltischen Staaten Betonbunker errichten. Wir haben den Eindruck, dass die Staaten des NATO-Blocks versuchen, uns einzuschüchtern und Russland zu einigen Entscheidungen zu zwingen, auch im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt", erklärte Popow und betonte, dass es den Gegnern nicht gelingen werde, dieses Ziel zu erreichen.
"Die russischen Streitkräfte arbeiten alle möglichen Szenarien für die Entwicklung der Ereignisse aus."
Popow fasste zusammen: "Wir stationieren Iskander-Komplexe entlang der Grenzen der NATO-Länder – in Kaliningrad, im Bezirk Leningrad und Moskau sowie in Belarus. Es finden Übungen über den Einsatz taktischer Atomwaffen statt. Daher wird unsere Antwort verhältnismäßig sein, der Feind sollte das begreifen und jeden seiner Schritte gut abwägen."
Am Dienstag kommentierte auch Wladimir Putin nach seinem Besuch in Usbekistan die Spekulationen westlicher Politiker, darunter des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, über Angriffe auf das russische Territorium: "Wenn er über die Möglichkeit von Angriffen mit Langstrecken-Präzisionswaffen spricht, dann sollte er als Leiter einer militärischen und politischen Organisation – obwohl er ein Zivilist ist wie ich,– doch wissen, dass Langstrecken-Präzisionswaffen nicht ohne Mittel der Weltraumaufklärung eingesetzt werden können."
Der russische Präsident erläuterte, dass die Flugaufträge für Angriffssysteme wie die Storm Shadow automatisch ohne jegliches Zutun von ukrainischen Soldaten und auch für ATACMS-Systeme von NATO-Soldaten eingegeben werden können. "Diese ständige Eskalation kann zu ernsten Konsequenzen führen. Wenn diese schwerwiegenden Folgen in Europa eintreten sollten – wie werden sich dann die Vereinigten Staaten angesichts der Parität der strategischen Waffen verhalten? Das ist schwer zu sagen", warnte der Präsident.
"Wollen sie einen globalen Konflikt? Ich hatte den Eindruck, dass sie im Hinblick auf die strategischen Waffen mal verhandeln wollten, aber wir sehen kein großes Verlangen danach. Zwar gibt es Gespräche darüber, aber wir sehen keinen großen Willen dazu. Warten wir ab, wie es weitergeht", schloss Putin.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen am 28. Mai 2024.
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