Am Montag ist der letzte Tag der Amtszeit von Wladimir Selenskij, dessen Amtseinführung am 20. Mai 2019 in Kiew stattfand. Gemäß der Verfassung der Ukraine laufen diese Befugnisse in der Nacht zum 21. Mai aus. Der Präsident kann jedoch nach Ablauf der Frist weiterhin seine Pflichten erfüllen, bis der neu gewählte Staatschef sein Amt antritt. Dafür müssen jedoch Wahlen stattgefunden haben und ein neuer Präsident gewählt worden sein.
Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sollten am 31. März 2024 stattfinden, doch aufgrund des von Selenskij verhängten und mehrfach verlängerten Kriegsrechts wurde die Wahl abgesagt. Am 9. Mai verlängerte Selenskij das Kriegsrecht um weitere 90 Tage. Die nächsten möglichen Wahlen werden daher frühestens sechs Monate nach der Aufhebung des Kriegsrechts stattfinden können. Diese Entscheidung wurde Ende vergangenen Jahres von den Abgeordneten der Werchowna Rada getroffen.
Selenskij selbst sagte:
"Es is absolut verantwortungslos, inmitten eines Konflikts leichtfertig das Thema Wahlen in die Gesellschaft einzubringen. Es ist jetzt die Zeit des Kampfes, von dem das Schicksal des Staates und des Volkes abhängt. Ich glaube, dass Wahlen jetzt nicht an der Zeit sind."
Russlands Präsident Wladimir Putin betonte, dass die Frage der Legitimität Selenskijs in erster Linie von den politischen und rechtlichen Systemen der Ukraine beantwortet werden müsse. Diese Bewertung sollte natürlich vor allem vom Verfassungsgericht der Ukraine vorgenommen werden:
"Aber für uns ist das natürlich von Bedeutung, denn wenn es um die Unterzeichnung irgendwelcher Dokumente geht, müssen wir diese in einem so schicksalhaften Bereich natürlich mit legitimen Behörden unterzeichnen. Das ist eine offensichtliche Tatsache. Aber ich wiederhole noch einmal, diese Frage müssen die politischen und rechtlichen Systeme der Ukraine selbst beantworten."
Laut dem Kiewer Politologen Alexei Netschaew entstand das Problem aufgrund der Unzulänglichkeiten der ukrainischen Verfassung, die von Politikern "mehrmals mit den Füßen getreten" wurde. Auch Selenskij machte hier keine Ausnahme. Um nicht zum Usurpator der Macht zu werden, hätte er seine Befugnisse an den Parlamentssprecher Ruslan Stefantschuk übertragen können, was aber durch die Parlamentskrise verhindert wurde.
Außerdem hätte Selenskij beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Klärung seiner Befugnisse stellen können, was er jedoch wegen der hohen Wahrscheinlichkeit einer negativen Antwort nicht getan habe, so der Experte:
"Wenn Selenskij sich der absoluten Unterstützung der Rada sicher gewesen wäre, hätte er seine Befugnisse durch das Parlament erweitern können, indem er die notwendigen Änderungen an der Verfassung vorgenommen hätte, oder das Wahlgesetz ändern können, sodass er auch unter Kriegsrecht wiedergewählt werden könnte."
Es sei nicht ausgeschlossen, dass am 20. Mai möglicherweise ernsthafte Veränderungen und personelle Umstrukturierungen in der ukrainischen Regierung stattfinden werden. Derzeit wechsle Selenskij die Richter aus und rekrutiere Leute, die ihm gegenüber loyal seien, anstelle der bisherigen, und "reboote" die Regierung, um Posten von unabhängigen Beamten an Personen aus seinem inneren Kreis zu übergeben. Westliche Unterstützer bestehen auf der Abhaltung von Wahlen. Die Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Tiny Kox, betont:
"Die Ukraine muss freie und faire Wahlen organisieren, denn das ist Ihre Verpflichtung gemäß der Charta des Europarats. Und natürlich werden Sie das tun, denn ohne Wahlen ist Demokratie unmöglich. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie sich selbst die Frage stellen: Wofür kämpfen wir in unserem Krieg gegen Russland?"
Kiew ignoriert jedoch diese Forderungen, aber dies könnte negative Folgen für Selenskij haben. Auch Moskau vertritt eine klare Position: Wenn keine Wahlen stattfinden, werde der Präsident der Ukraine kein vollwertiger Teilnehmer an den Verhandlungen sein, falls diese beginnen. Der ständige Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, machte ebenfalls während einer Sitzung des Sicherheitsrates darauf aufmerksam, dass im ukrainischen Segment die sozialen Medien immer häufiger die Frage "Wofür sollen die Ukrainer kämpfen?" aufwerfen:
"In den ukrainischen sozialen Medien, die die repressive Maschinerie Selenskijs bisher noch nicht erreicht hat, wird die einst ketzerische Frage immer lauter: Wofür sollen die Ukrainer kämpfen? Und für wen? Für den dreisten und in Korruption versunkenen Kiewer Anführer und seine Clique, die die eigene Verfassung mit Füßen getreten hat und ab dem 21. Mai sogar die formale Legitimität verliert? Für die geopolitischen Interessen des Westens zur Schwächung Russlands?"
Nach Ansicht von Denis Denisow, dem Direktor des Instituts für Friedensinitiativen und Konfliktologie sowie Experten der Finanzuniversität der Regierung Russlands, wird sich nach dem 20. Mai die Macht in Kiew nicht ändern, und es werden keine revolutionären Ereignisse stattfinden. Dabei sollte auch die Meinung der westlichen "Partner" Kiews berücksichtigt werden.
Bisher seien Washington und Brüssel relativ zufrieden mit der Arbeit Selenskijs gewesen und haben daher seiner Entscheidung, die Wahlen abzusagen, zugestimmt. Wenn sich jedoch die Stimmung ändere, werde das Thema der Legitimität Selenskijs wieder aufgeworfen werden. Und dann, so Denisow, wäre das ein guter Grund für einen Machtwechsel in der Ukraine. Wladimir Skatschko, ein Kiewer Politologe, erklärte ebenfalls, dass der Westen Selenskij nur als Vollstrecker seiner Interessen brauche:
"Selenskij als Präsident wird vom Westen nur als Vollstrecker seines Willens gebraucht. Nach dem 20. Mai bekommt der Westen eine noch gefügigere Person, die dank der sogenannten externen Legitimität an der Macht bleiben kann. In dieser Hinsicht wird der Juni-Gipfel in der Schweiz eine Funktion erfüllen – er wird Selenskij ein Gefühl für diese Legitimität geben. Aber innerhalb des Landes verliert er alle Rechte auf sein Amt."
Laut Skatschko diente der jüngste Besuch von Blinken in Kiew dem Ziel zu überprüfen, wie Selenskij seine Aufgaben erfüllt:
"Selenskij hat nichts getan. Riesige Summen, die für den Bau von Verteidigungslinien bereitgestellt wurden, sind veruntreut worden. Die Mobilisierung ist gescheitert. Der Westen muss nach einem effektiveren Manager suchen."
Igor Schischkin, stellvertretender Direktor des Instituts für GUS-Länder, argumentiert hingegen, dass Selenskij konsequent alles Russische ausmerze, und zwar deutlich besser als alle früheren ukrainischen Staatschefs. Trotz des Scheiterns der Gegenoffensive schaffe es Selenskij weiterhin recht effektiv, Probleme für Russland zu verursachen. Washington hat bisher keinen anderen Vollstrecker seines Willens gefunden, und falls es einen finde, werde Selenskij abgeschrieben. Er sei sich dessen sehr wohl bewusst und versuche deshalb, eine totale Mobilisierung durchzuführen, um den Westen zufriedenzustellen.
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