In Berlin fand am 16. und 17. Mai ein Kongress des sogenannten "Antikriegskomitees" statt. Die Organisation vereinigt Putins Gegner und sonstige Vertreter der radikalen russischen Opposition im Ausland. Bei der Konferenz nahm auch der Ex-Milliardär Michail Chodorkowski teil, einer der prominentesten Gegner des russischen Präsidenten im Westen und seit seiner russischen Haftzeit notorischer Liebling der deutschen Presse. Sein Auftritt bei einer Podiumsdiskussion am Freitag sorgte im Netz für Aufsehen.
Gleich zu Beginn seiner kurzen Rede bat der Ex-Oligarch die ukrainischen Zuhörer, ihre Ohren zu verschließen, da er ihnen eine "bittere Wahrheit" kundtun müsste: "Meine Herren, Sie haben den Krieg in der Ukraine praktisch verloren." Und verbesserte: "Wir haben ihn verloren." Dann hat der einstige Multimilliardär es bewiesen, dass er nach wie vor in ganz großen Zahlenordnungen rechnen kann. Nach einer Reihe von Rechenbeispielen kam er zu dem Schluss:
"Einschließlich der US-Lieferungen liegt das reale Verhältnis der Kriegsausgaben [im Ukraine-Krieg] bei 2,5 zu eins zugunsten Putins, und in diesem Jahr ohne die US-Lieferungen bei vier zu eins." Außerdem zeigte er anhand seiner Berechnungen, dass Russland für dieses Geld viel mehr Artilleriegranaten produzieren kann als der Westen. Mit einem Preis von 500 Dollar pro Stück kosten sie nur ein Zehntel oder Fünfzehntel dessen, was der Westen aufbringen muss.
Die demographische Situation war der zweite Faktor, den Chodorkowski betrachtete. Am Anfang der Militäroperation habe ihm zufolge das Bevölkerungsverhältnis 3,5 zu eins zugunsten Russlands betragen, inzwischen liege es bei sieben zu eins. Zwar ist fraglich, ob der Bevölkerungsrückgang in der Ukraine aufgrund der Gebietsverluste und der Auswanderungsbewegungen das ohnehin ungünstige Verhältnis dermaßen verschlechtert habe. Dennoch ist unbestritten, dass die Ukraine, je länger der Krieg andauert, beim Faktor menschliche Ressourcen im Vergleich zu Russland immer schlechter dastehen wird.
"Wie sollten wir also den Krieg führen?", fragte Chodorkowski das Publikum. "Bei einem solchen Verhältnis von Unterstützern und Truppen wird die Ukraine Charkow bis zum Ende des Jahres verlieren. Und bis Mitte des nächsten Jahres Odessa. Das Kräfteverhältnis wird bis Ende 2025 zehn bis zwölf zu eins betragen."
Sollte diese Entwicklung nicht aufgehalten werden, wird der Ukraine laut dem russischen Ex-Oligarchen in zwei Jahren nur noch Lwow erhalten bleiben. Würden "NATO-Truppen, vertreten durch Polen, einmarschieren", und das sei das optimistischste Szenario, könne alles noch schneller gehen. Da der Westen in der Ukraine wegen seiner mangelnden Unterstützung als Verräter angesehen wird, werden die Ukrainer auf die Seite Russlands wechseln und zusammen mit den Russen als Feinde des Westens an der Grenze zu Polen stehen, prognostizierte Chodorkowski.
Um dies zu vermeiden, empfahl der notorische Kreml-Gegner Berlin sein eigenes Rezept. Deutschland solle "klügere" und "härtere" Sanktionen gegen Russlands Technologien einführen, den Militäretat auf "militärische Gleise" setzen und auf bis zu drei Prozent des BIP erhöhen. Auch die "Militärunion der Demokratien" müsse international gestärkt werden. Außerdem sollte Deutschland die talentiertesten Russen abwerben und an schon in Deutschland lebenden Russen "graue Pässe" ausgeben. Die Niederlage des "Putin-Regimes" nannte er einen Sieg für Russland.
In einem taz-Interview bekannte Chodorkowski zudem, dass ihn der russische Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 wegen seiner Verwandtschaft in Charkow "hysterisch" gemacht habe. Putin sei seitdem sein persönlicher Feind, früher sei er nur ein politischer Gegner gewesen. Nach seiner vorzeitigen Freilassung im Jahr 2013 lebte Chodorkowski mit seiner Familie zunächst in der Schweiz, seit 2016 lebt er in London. Im Westen erhielt er viele Auszeichnungen und Ehrungen für seinen Einsatz für "Freiheit und Demokratie".
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