Der ukrainische Generalstab erklärte am Montag, dass die russischen Streitkräfte bei den Gefechten in der Nähe der Stadt Charkow derzeit die Oberhand haben. Nachdem Russland am Wochenende mehrere Städte und Dörfer eingenommen hatte, warfen einige ukrainische Truppen ihren Vorgesetzten vor, sich nur unzureichend verteidigt zu haben.
Moskau hatte am Freitagmorgen eine großangelegte Offensive auf die ukrainische Region Charkow gestartet und die ukrainischen Linien aus der Luft und mit Artillerie bombardiert, bevor es Truppen über die Grenze schickte. Dutzende Dörfer und Siedlungen wurden eingenommen. Das russische Verteidigungsministerium meldete in seinem jüngsten Bulletin vom Sonntag die Befreiung von Gatischtschje, Krasnoje, Morochowez und Olejnikowo.
Am Sonntag waren die Kampfhandlungen in der Stadt Woltschansk noch im Gange, während ukrainische Quellen von einem russischen Vorstoß auf das Dorf Lipzy berichteten, das weniger als 20 Kilometer vom Stadtrand von Charkow entfernt liegt. Beide Ortschaften wurden von den ukrainischen Streitkräften zuvor als Aufmarschgebiet für den Beschuss ziviler Ziele in der russischen Region Belgorod genutzt.
"Im Moment hat der Feind einen taktischen Erfolg" im Kampf um Woltschansk, offenbarte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte in den frühen Morgenstunden des Montags in einer Erklärung in den sozialen Medien. Da die russischen Streitkräfte Woltschansk von Osten und Lipzy von Norden her angreifen, "bleibt die operative Situation schwierig und ändert sich dynamisch in Richtung Charkow", heißt es in der Erklärung weiter.
Der russische Vormarsch hat die Ukraine gezwungen, in aller Eile Truppen von der Donbass-Front zu verlegen, wie die New York Times (NYT) am Sonntag berichtete. Die US-amerikanische Zeitung beschrieb die verlegten Truppen als "müde" und sprach mit einem Soldaten, der sagte, dass "er und seine Kameraden seit Tagen nicht mehr geschlafen haben und schockiert darüber sind, wie schnell die Russen vorrücken."
Denis Jaroslawski, ein ukrainischer Kommandeur, der in der Region aktiv ist, beklagte sich in einem Facebook-Post, dass seine Vorgesetzten nicht genügend Verteidigungsanlagen zur Abwehr der Russen gebaut und möglicherweise auch Geld für deren Bau veruntreut hätten. Er schrieb:
"Die erste Linie der Befestigungen und Minen war einfach nicht vorhanden. Der Feind konnte ungehindert in die Grauzone jenseits der Grenzlinie eindringen. Wir kamen zu dem Schluss, dass es sich entweder um vorsätzlichen Diebstahl oder um vorsätzliche Sabotage handelte."
Mit "Grauzone" meinte Jaroslawski das Land zwischen der russischen Grenze und der Hauptverteidigungslinie der Ukraine um Charkow. Als die ukrainischen Streitkräfte im vergangenen Sommer versucht haben, in die russische Hauptverteidigungslinie zwischen Cherson und Donezk einzudringen, sorgten monatelange Grabenaushebungen und Minenverlegungen durch das russische Militär dafür, dass sie die "Grauzone" bis auf eine Handvoll Angriffe nicht durchqueren konnten, wobei sie nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums Verluste von mehr als 160.000 Mann erlitten haben.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hatte am Freitag behauptet, seine Streitkräfte hätten "alles berechnet" und seien darauf vorbereitet, den russischen Vorstoß abzuwehren. Am Sonntag räumte er jedoch ein, dass die "Grauzone" zu einer "Kampfzone" und die Lage um Woltschansk "extrem schwierig" geworden sei.
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