In einem Interview mit The Economist teilte der stellvertretende Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR seine düstere Einschätzung zur Lage an der Front mit. Wadim Skibitzkij rechne damit, dass Russland Ende Mai oder Anfang Juni eine Großoffensive starten werde, die von den ukrainischen Streitkräften nur schwer zu verhindern sei. "Unser Problem ist ganz einfach: Wir haben keine Waffen", erklärte der General.
Trotz der Bewilligung von zusätzlichen 60 Milliarden US-Dollar für die Ukraine durch Washington werden Kiews Nachschubprobleme nicht so bald behoben sein. Wie das britische Magazin anmerkt, werde es noch Wochen dauern, bis die ersten Lieferungen an der Front ankommen.
Zudem sei die russische Armee nicht mehr die selbstgefällige Organisation, die sie 2022 gewesen sei, so Skibitzkij, sondern agiere jetzt als "einheitlicher Körper mit einem klaren Plan und unter einem einzigen Kommando".
Kiews Kriegsanstrengungen werden auch durch den Mangel an willigen Wehrpflichtigen untergraben, dem mithilfe des drakonischen neuen Mobilisierungsgesetz entgegengewirkt werden soll. "Ukrainische Vertreter befürchten, dass die nächste Welle mobilisierter Rekruten in unmotivierten Soldaten mit schlechter Moral resultieren wird", so The Economist.
Skibitzkij wiederholte die Behauptungen Kiews, Moskau wolle die im Donbass gelegene Stadt Tschassow Jar bis zum 9. Mai einnehmen, wenn Russland den Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg feiert. Die ukrainische Militärführung hatte den angeblichen Termin Mitte April angekündigt und sich in letzter Zeit damit gebrüstet, Moskaus angebliche Zielvorgabe zu vereiteln.
Belege oder auch nur Hinweise, dass Russland die Stadt tatsächlich unbedingt bis zum "Tag des Sieges" einnehmen will, gibt es jedoch nicht. Russland werde Tschassow Jar so oder so einnehmen, so Skibitzkij gegenüber The Economist, der "keine Möglichkeit für die Ukraine [sieht], den Krieg allein auf dem Schlachtfeld zu gewinnen." Selbst wenn es Kiew gelänge, "die russischen Streitkräfte an die Grenzen zurückzudrängen – eine Aussicht, die in immer weitere Ferne rückt –, würde dies den Krieg nicht beenden", fasst die Zeitung die Position des Generals zusammen.
Solche Kriege könnten nur mit Verträgen beendet werden, betonte Skibitzkij, der die anhaltenden Feindseligkeiten als einen Versuch beider Seiten bezeichnete, eine stärkere Position bei künftigen Friedensgesprächen zu erlangen. Der stellvertretende GRU-Leiter glaubt, dass es vor 2025 keine sinnvollen Verhandlungen geben wird. Moskau hat wiederholt erklärt, dass es im Gegensatz zu Kiew zu Friedensverhandlungen bereit sei, solange die "Realitäten vor Ort" anerkannt würden.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij beabsichtigt, Mitte Juni auf einer internationalen Konferenz in der Schweiz vor allem neutrale Staaten wie China oder Indien von seiner sogenannten "Friedensformel" zu überzeugen. Da diese Formel aber lediglich Forderungen enthält, die praktisch eine Kapitulation Russlands verlangen, rechnen nicht-westliche Beobachter damit, dass Selenskijs Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sein werden.
Moskau erklärte, dass es die Veranstaltung in der Schweiz daher als irrelevant betrachte und auch dann nicht daran teilnehmen werde, wenn es eingeladen werde – die Schweiz beabsichtigt aber ohnehin nicht, eine russische Delegation einzuladen.
Die Organisatoren der Veranstaltung hätten "nicht die Absicht, einen Weg zum Frieden zu suchen, geschweige denn, die Wurzeln des Ukraine-Konflikts zu analysieren", erklärte dazu am Freitag die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa.
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