Von Wladislaw Sankin
Seit dem Sieg der Kandidatin des Westens Maia Sandu bei den Präsidentschaftswahlen im November 2020 befindet sich Moldawien auf dem strammen Kurs in die EU und NATO. Im Juni 2022 erhielt Moldawien Kandidatenstatus für den EU-Beitritt. Im Juli 2023 fand auf einem moldawischen Weingut unweit der ukrainischen Grenze ein EU-Gipfel statt, wo Sandu appellierte, Moldawien bis Ende dieses Jahrzehnts in die EU aufzunehmen. Auch zeigt sich die moldawische Staatsführung bei jeder Gelegenheit solidarisch mit der benachbarten Ukraine und Wladimir Selenkskij und macht sich mit antirussischen Äußerungen bemerkbar.
Auch die NATO ist in Moldawien aktiver geworden. Moldawien nimmt an gemeinsamen Militärübungen teil, es finden Waffenlieferungen statt und es werden sogar bilaterale Abkommen für militärische Kooperation mit einzelnen NATO-Ländern wie etwa Frankreich geschlossen. Fast ohne Gegenwehr beugt sich Chișinău dem strickten antirussischen Kurs von Washington und Brüssel: Russische und prorussische Medien sind schon seit langem verboten, russische Politiker und Experten sind mit Reiseverboten belegt, diplomatische Beziehungen mit Russland auf die unterste Stufe herabgesetzt. Der Westen setzt alle Mittel daran, um Moldawien fest in seinen Orbit zu ziehen.
Doch, die Stabilität des prowestlichen Kurses trügt. Traditionell ist das Land zwischen dem prorussischen und prowestlichen Lager in ca. zwei gleiche Hälften gespalten, wobei sehr viele der Bürger, bis zu 40 Prozent, zu einer mittleren, neutralen Position tendieren. Hunderttausende Moldawier arbeiten seit Jahrzehnten in Russland oder der EU, da es Zuhause keine Arbeit gibt.
Das Assoziierungsabkommen mit der EU existiert seit mehr als 10 Jahren. Die Annäherung mit der EU konnte aber keine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im ohnehin sehr armen Land bewirken. Im Gegenteil, die Energie- und Wohnnebenkosten haben sich in den letzten Jahren nur noch weiter erhöht. Auch gibt es Angst vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges auf die Region, denn es gibt immer wieder Spannungen an der Grenze zwischen der Ukraine und der prorussischen Enklave Transnistrien. In diesem schmalen Landstreifen, das völkerrechtlich immer noch Teil der Republik Moldau ist, sind ca. 2.000 russische Soldaten stationiert.
Als Konsequenz erlitt die prowestliche PAS-Partei Ende 2023 bei den Munizipalitätswahlen eine schlappe Niederlage. Fast zeitgleich mit diesem Ereignis begann die Chefin der gagausischen Autonomie-Region Jewgenia Gutsul ihre Pendel-Diplomatie mit Russland.
Gagausien im Süden der Republik mit ihren ca. 120 Tausend Einwohnern galt lange als prorussisch. Doch das war bis vor kurzem im Ausland kaum bekannt. Anfang des Jahres traf sich Gutsul mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und bat Russland um finanzielle Hilfen für ihre Region – RT DE berichtete. Seitdem kommt die kleine Autonomie mit überwiegend turkstämmiger Bevölkerung nicht aus den Schlagzeilen.
Und die Hilfe kam. Eine russische Bank stellte für die Gagausen russische Bankkarten für das Zahlungssystem MIR aus und begann Renten- und Lohnzuschüsse auf die Karten auszuzahlen. Auch vereinbarte Gutsul für Gagausien einen Sonderrabatt bei den russischen Gaslieferungen. Die autonome moldawische Region in Moldawien begann direkte wirtschaftliche und kulturelle Kontakte mit den russischen Regionen zu knüpfen, als wären sie Teil eines Bündnisses oder gar eines gemeinsamen Staates.
Das war schon ungewöhnlich mutig, sowohl von den Gagausen als auch vom offiziellen Moskau. Normalerweise setzt Moskau viel daran, dass nicht der Eindruck entsteht, dass es sich in die Politik der postsowjetischen Staaten "einmischt". Auch prorussische Politiker in den jeweiligen Ländern müssen in der Regel in ihrer Heimat ihre Sympathien für Russland in der Öffentlichkeit zügeln, um ihren Gegnern keine Angriffsfläche zum Vorwurf zu bieten, ein "Handlanger Moskaus" zu sein.
Doch mit dem Beginn des moldawischen Wahljahres schlug auch auf der russischen Seite die Stunde der Aufrichtigkeit. Die russische Außenpolitik wurde jahrzehntelang auch intern dafür kritisiert, dass sie für prorussische politische Kräfte im sog. nahen Ausland zu wenig Unterstützung leistet. Nun beginnt Russland die Renten für moldawische Bürger auszuzahlen und lässt Politiker wie Gutsul hofieren. Offenbar ermutigt durch ihre Russland-Besuche, fordern diese Politiker die prowestliche Sandu trotz des politischen Ungleichgewichts nun offen heraus. Vor wenigen Tagen "erdreiste sich" die 37-jährige Region-Leiterin von Sandu die Wiedereinführung des Russischen als offizielle Sprache zu fordern – Gagausien ist komplett russischsprachig.
Doch diese Schritte waren nur das Vorspiel. Am Sonntag fand etwas statt, was nun als politische Sensation bezeichnet werden könnte. Die Vorsitzenden mehrerer oppositioneller Parteien Moldawiens kamen in einem Moskauer Edel-Hotel zusammen und kündigten die Bildung eines gemeinsamen Wahlblocks an, auch Jewgenia Gutsul und der Chef der Schor-Partei, Ilan Schor, waren dabei. Mit einem klaren Ziel: Die Wiederwahl von Maia Sandu zu verhindern und ihre Politik der Westbildung zu beenden. Die Koalition soll nun "Podeba" (Der Sieg) heißen.
Sandu will am Tag der Präsidentschaftswahlen im November auch die Bürgerabstimmung für den EU-Beitritt abhalten. Das mache diese Vor-Wahlperiode schicksalhaft für das Land, sind Oppositionspolitiker auch bei ihrem Treffen in Moskau nicht müde zu betonen. Die Zukunft des Landes sehen sie in der Annäherung an Russland und die GUS sowie im Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion.
Ein solcher Parteitag wäre in Moldawien wegen der strengen Verfolgung der Opposition unmöglich. Jede politische Veranstaltung endet mit Verhaftungen, erklärte der Politiker Ilan Schor. Er führte wiederholt aus, dass die Behörden, die den westlichen Interessen nachgeben, die Souveränität ihres eigenen Staates zerstören würden. Russland bezeichnete Schor als "Freund", der die Moldawier sehr liebe.
Um die Erfolgschancen für seine Koalition zu erhöhen, müsste Schor allerdings die stärksten Oppositionsparteien, die der Sozialisten und Kommunisten, auf seine Seite ziehen. Ob das gelingt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Auch die Sozialisten um den Vorgänger Sandus, Igor Dodon, zeigen in Bezug auf Russland und EU ähnliche Positionen.
Natürlich werden Chișinău, Brüssel, Berlin und Bucharest nicht tatenlos zusehen, wie ein in Moskau gebildeter Wahlblock den Weg Moldawiens in den Westen versperrt. Es ist mit einer Verschärfung der Repressalien gegen die prorussische Opposition und einer Zensur in den Medien zu rechnen. Viele Schritte deuten darauf hin, dass der Westen auch Moldawien für den Krieg gegen Russland aufrüsten will. Doch die Moldawier sind nicht die Ukrainer mit ihrer militanten Banderismus-Tradition. In der Rolle eines Söldner-Landes sehen sie sich jedenfalls nicht. Es besteht noch die Chance, dass sie bei den Wahlen, die grundsätzliche Frage nach der Zukunft ihres Landes auf friedlichem Wege entscheiden können. Danach wird es diese Möglichkeit nicht mehr geben.
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