Die Europäische Union fällt im internationalen Vergleich immer weiter zurück. Die wirtschaftliche Entwicklung ist schwach und liegt weit unter dem internationalen Durchschnitt. Zentrale Indikatoren wie die Reallohnentwicklung sind alarmierend schlecht. Große Probleme bereitet daher die Binnennachfrage. Das liegt nicht daran, dass die Bürger der EU viel sparen, sondern daran, dass ihnen immer weniger Geld zur Verfügung steht.
Die Politik der vergangenen Jahre macht sich bemerkbar. Die Warner vor den Folgen der Austeritätspolitik waren nicht gehört worden, marktradikale Hardliner wie Wolfgang Schäuble und die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich das Verhältnis der Staaten untereinander immer nur als Konkurrenzverhältnis vorstellen konnte, haben sich mit ihren Ideen durchgesetzt ‒ gegen jede ökonomische Vernunft, dafür aber mit griffigen populistischen Formeln, um das Publikum zu ködern.
Vor allem die Euro-Länder stecken in der Konkurrenz-Falle. Mit der Einführung des Euro ist der Wechselkurs kein Regulativ mehr, das unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen könnte. Infolge der deutschen Lohnsenkungspolitik im Rahmen der Agenda 2010 und der vor allem auf deutsches Drängen durchgedrückten Austeritätspolitik blieb nur die interne Abwertung, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Sprich, die Löhne und Sozialstandards mussten sinken. In der EU begann ein Wettbewerb nach unten. Die Binnennachfrage ist daher in der EU chronisch schwach, das Investitionsklima ist schlecht, die EU hat sich selbst abgekoppelt.
Zu der Erkenntnis, dass diese Politik ein Fehler war, kommt nun ausgerechnet Mario Draghi, der zur Zeit der Eurokrise Chef der EZB war und den damaligen Kurs durchpeitschte. Der Blog Lost in Europe zitiert Draghi mit den Worten:
"Wir haben bewusst versucht, die Lohnkosten im Vergleich zueinander zu senken – und in Kombination mit einer prozyklischen Fiskalpolitik hat das unter dem Strich nur dazu geführt, dass unsere eigene Binnennachfrage geschwächt und unser Sozialmodell untergraben wurde."
Schon damals fanden keine inhaltlich orientierten Diskussionen mehr statt. Jeder, der auf den Zusammenhang von Löhnen und Wachstum aufmerksam gemacht hat, wurde verlacht und vor allem in Deutschland aus dem Diskurs ausgegrenzt. Es ging schon in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts nicht um das bessere Argument und Denken in Zusammenhängen, sondern um die Durchsetzung von Ideologie mit populistischen Schlagworten. In Deutschland hielt man die "schwäbische Hausfrau" für ein makroökonomische Zusammenhänge final erklärendes Beispiel.
Jetzt merkt man auch in der EU, dass man ökonomische Gesetzmäßigkeiten auch durch festen Glauben an eine wirtschaftspolitische Ideologie nicht aushebeln kann. Mario Draghi geht nun mit der EU und faktisch auch mit der von ihm mitverantworteten Politik hart ins Gericht.
In seinem Bericht, dessen Veröffentlichung im Juni ansteht, fordert Draghi umfassende Reformen.
Ähnlich sieht das Italiens ehemaliger Ministerpräsident Enrico Letta. Die EU laufe Gefahr, den Anschluss zu verlieren, schreibt er im nach ihm benannten Letta-Bericht, der vor kurzem veröffentlicht wurde. Darin fordert er unter anderem die Stärkung der Verhandlungsposition der Arbeitnehmer.
"Im Gegenteil müssen die Verhandlungsmechanismen zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern gestärkt werden, wenn wir Unternehmen und hochwertige Arbeitsplätze schaffen wollen."
Das sind ganz neue Töne. Ob sich dies allerdings durchsetzen lassen wird, ist fraglich. Die deutsche Position in der EU ist nach wie vor stark und in Deutschland gilt, dass Sparen grundsätzlich gut und Geld auszugeben grundsätzlich schlecht ist und dass steigende Löhne ein Problem für die Exportwirtschaft darstellen, sie die Inflation treiben und daher politisch zu verhindern sind.
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