Ukrainischer Ex-Offizier in Kiew hilft Dienstverweigerern: "Soldaten wollen nicht kämpfen"

Immer mehr Ukrainer melden sich freiwillig bei russischen Videobloggern und schildern die Situation im Land. Die Gespräche entwickeln sich zu einer Austauschplattform für Russen und Ukrainer. Die Ukrainer wollen, dass der Krieg schnellstmöglich beendet wird – auch zu den russischen Bedingungen.

Der Westen geht bei der massiven militärischen Unterstützung der Ukraine davon aus, dass die Ukrainer nach wie vor für ihre "Unabhängigkeit" und "territoriale Souveränität" kämpfen wollen. Ihre zunehmenden Misserfolge auf dem Kampffeld seien nur auf mangelnde Ausstattung mit westlichen Waffen zurückzuführen, die Kampfmoral sei aber so hoch wie auch zu Anfang der russischen Invasion, so ist zumindest der Grundtenor der Ukraine-Berichterstattung in Deutschland.

Massive Probleme bei der Mobilisierung der männlichen Bevölkerung werden dabei weitgehend ignoriert. Die westlichen Medien und Politiker stützen sich in ihrer Lagebeurteilung vor allem auf die Meldungen handverlesener Vertreter aus dem ukrainischen Militär. Doch die wahre Situation im Land unterscheidet sich grundlegend von diesem Medienbild.

Laut einem Ex-Offizier der ukrainischen Armee aus Kiew äußern Militärs, die in ukrainischen offiziellen Medien auftreten, nicht ihre eigene Meinung, sondern sie verbreiten das vom Selenskij-Büro vorgegebene Narrativ. Sie seien bezahlte Propagandisten, deren Aufgabe ist, die Lage im Land und auf dem Kampffeld schönzureden. Das sagte er in einem Videointerview auf dem YouTube-Kanal "Walk&Talk". Der Kanal wird von einem russischen Videoblogger namens Jewgeni betrieben und hat 460.000 Abonnenten.

In den letzten Monaten ist "Walk&Talk" zu einer populären Medienplattform für einen direkten Meinungsaustausch zwischen Russen und Ukrainern entwickelt. Das Gespräch mit dem ukrainischen Ex-Offizier erschien in zwei Teilen am 14. und 15. April und wurde seitdem mehr als 1,6 Millionen Mal angeklickt. Das macht die Videotelefonie zwischen einem Russen aus Krasnodar und einem Ukrainer aus Kiew zu einem ernst zu nehmenden Medienereignis.

Vor allem ist die Tatsache brisant, dass der Ex-Militär im Laufe des Gesprächs die ukrainischen Kämpfer praktisch dazu aufruft, an der Front die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Den russisch-ukrainischen Krieg in seinem jetzigen Stadium betrachtet er als sinnloses Sterben. Zur derzeitigen Kampfmoral in der ukrainischen Armee und Gesellschaft sagt er mit Nachdruck: "Keiner will kämpfen."

Es stellt sich natürlich die Frage, wie er zu dieser Erkenntnis kam und inwieweit seine Schilderungen authentisch sind. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Jewgenis anonymer Gesprächspartner tatsächlich derjenige ist, für den er sich ausgibt. Vor allem die charakteristische Aussprache und detailreiche Schilderungen aus dem Militäralltag sowie der Besonderheiten der rechtlichen Situation, in die ukrainische Militärdienstverweigerer geraten, machen das Gespräch zu einem glaubwürdigen Zeugnis.

Wie auch viele seine Landsleute meldete er sich im April 2022 als Freiwilliger zum Armeedienst – "um die Heimat zu verteidigen". Das geschah unter dem Eindruck der angeblichen russischen Massaker in Butscha und Irpen. Ende März zog das russische Militär seine Truppen aus dem Kiewer Gebiet und anderen Regionen im Norden der Ukraine. Nach der Lesart des Auswärtigen Amtes war allein das "Massaker" für den Ausstieg der Ukraine aus den Verhandlungen in Istanbul verantwortlich.

Die Russen hätten die ukrainische Seite zwei Tage im Voraus über den Abzug benachrichtigt, sagte der Ex-Offizier (das müsste spätestens am 28. oder 29. März gewesen sein, circa elf Tage vor dem Besuch von Boris Johnson in Kiew, der forderte, dass Kiew kämpfen müsse – Anm. der Red.). Doch diese freiwillige Geste der Versöhnung, die gemäß der Vereinbarungen von Istanbul erfolgt war, wurde von der ukrainischen Propaganda bewusst als russische Niederlage und ukrainischer militärischer Sieg missinterpretiert. Das machte vielen Freiwilligen wie ihm damals Mut.

Doch die Enttäuschung über die wahren Verhältnisse kam sehr schnell. "Solange du in der Lage bist, zu kämpfen und deine Kampfaufgaben zu erfüllen, wirst du von der Militärführung gut behandelt. Bist du verwundet oder nicht mehr willens weiterzukämpfen, wirst du mit Füßen getreten", schilderte er.

Aus diesem Grund schätzt der Ex-Leutnant, der im Kampfgebiet eine Kompanie befehligte, dass es inzwischen sehr viel Überläufer gibt, die auf die russische Seite übergingen und seitdem abgetaucht sind. Es geht ihm zufolge um Tausende Soldaten, die in der ukrainischen Statistik als vermisst gemeldet sind. Schon Ende 2022 sei die Stimmung in der Armee zum Negativen gekippt. Seitdem glaubt man nicht mehr an den Sieg der Ukraine, auch in der Bevölkerung nicht. Seinen Informationen zufolge sind inzwischen bis zu 750.000 ukrainische Soldaten außer Gefecht gesetzt worden – getötet, verwundet oder vermisst.

Er selbst hatte zuvor bei den Sicherheitsbehörden gedient und konnte sich dank Kontakten aus seinem Bekanntenkreis rechtzeitig vom Dienst suspendieren lassen. Nun leistet er anderen Militärdienstverweigerern juristische Hilfe. Damit rette er Leben. Zur Stimmung im Land sagt er:

"Zu Anfang der Invasion gab es bei uns die Idee, aber kein Wissen und keine Erfahrung. Jetzt haben wir Erfahrung und Wissen, aber keine Idee, wie es mit dem Land weitergeht."

Von den "sogenannten" westlichen Partnern sei er enttäuscht, denn auch sie verfolgten in der Ukraine ihre eigenen Interessen – das Land sei an sie verkauft worden und restlos verschuldet. Die Menschen seien kriegsmüde, ihnen sei es inzwischen egal, ob sie unter ukrainischer oder russischer Flagge leben. Er selbst fühle sich nicht in Sicherheit und müsse in Angst vor Verfolgung leben. So gehe es im Land vielen, sagt er – trotz antirussischer Propaganda in den Medien.

Auch ein Gesprächspartner aus Charkow schilderte wenige Tage zuvor ein ähnliches Stimmungsbild. Er müsse seine Wege außerhalb der Wohnung genau berechnen, um keinen Mobilisierungskommandos zu begegnen. Auch er kritisierte die Selenskij-Regierung für ihre Unnachgiebigkeit und Verweigerungshaltung. Verhandlungen mit Russen könnten den Krieg und das Sterben der Ukrainer stoppen.

Nach Einschätzung des ehemaligen ukrainischen Politikers Oleg Zarjow wäre die Ukraine durchaus in der Lage, den Krieg mindestens zwei weitere Jahre weiterzuführen. Dies sei allerdings nur unter zwei Voraussetzungen möglich. Die erste ist, dass die USA die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine wiederaufnehmen. Der zweite Faktor sei Geld. Dafür müsse der Westen vor allem die von ihm eingefrorenen russischen Geldreserven lockermachen und der Ukraine übergeben.

Aber der dritte und womöglich der wichtigste Faktor sei die Stimmung in der Bevölkerung. In der Ukraine mache sich psychologische Müdigkeit und das Gefühl der Ausweglosigkeit breit, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Eliten, stellt der gut informierte Exilpolitiker mit viel Insiderwissen fest. "Dieser dritte Faktor kann den Strich durch die Rechnung bedeuten. Die Saite kann früher reißen", so Zarjow.

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