Seit Monaten beschwören Kiews westliche Unterstützer das Narrativ, dass ein Sieg Russlands in der Ukraine Moskau dazu ermuntern würde, NATO-Länder anzugreifen.
Beispielhaft dafür steht die Aussage des Vorsitzenden des Europäischen Rats, Charles Michel, der vor zwei Wochen sagte:
"Wenn die EU nicht richtig reagiert und die Ukraine nicht ausreichend unterstützt, um Russland aufzuhalten, sind wir die Nächsten. Wir müssen daher verteidigungsbereit sein und in einen 'Kriegswirtschafts'-Modus übergehen."
Russland müsse daher in der Ukraine aufgehalten werden, sonst drohe ein direkter Krieg zwischen NATO und Russland.
Auch der französische Ex-Diplomat Michel Duclos, inzwischen Sonderberater für Geopolitik und Diplomatie bei der Denkfabrik Institut Montaigne, sieht das so. In einem Interview mit der Welt vom Mittwoch sagte er:
"Sollte Russland in der Ukraine siegen, ist eine militärische Auseinandersetzung durchaus möglich, vor allem dann, wenn dieser Sieg mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus zusammenfallen sollte. Das würde für Russland einen zusätzlichen Anreiz bedeuten, die Garantie der Nato im Bündnisfall zu testen, vor allem in den baltischen Ländern."
Doch Duclos geht noch einen Schritt weiter. Im Fall einer Niederlage Russlands in der Ukraine sei eine direkte militärische Konfrontation mit der NATO nicht vom Tisch ‒ sie werde sogar wahrscheinlicher! Dazu sagt der Franzose, der Russland "seit Jahrzehnten" kenne:
"Verliert Russland jedoch, dürfte es eine revanchistische Haltung einnehmen und so schnell wie möglich angreifen wollen."
Egal, wie es gedreht und gewendet wird, ein russischer Angriff auf die NATO erscheint somit unausweichlich. Ein plausibles Motiv für Moskau, den Krieg mit der NATO zu suchen, konnte bislang keiner der ukrainischen Verbündeten benennen.
Es liegt auf der Hand, dass die Rhetorik, wonach Russland Europa überrollt, wenn es nicht in der Ukraine aufgehalten wird, vor allem dazu dient, der wachsenden Kriegsmüdigkeit der westlichen Bevölkerung entgegenzuwirken. Dieser Ansicht ist zumindest Marcel Berni, Militärstratege an der ETH Zürich. Er sieht "kein plausibles Szenario, wonach ein unmittelbarer Angriff Russlands auf NATO-Gebiet bevorsteht".
Die Angstmache hinsichtlich eines russischen Angriffs auf die NATO sei nichts anderes als ein "Weckruf gegen die europäische Kriegsmüdigkeit", so Berni.
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