Von Wladislaw Sankin
Der Terroranschlag auf die Besucher eines Konzerts in einer Trabantenstadt von Moskau hat Russland und die ganze Welt erschüttert. Schockierend war nicht nur die Gnadenlosigkeit der Mörder, die auf die wehrlosen Menschen aus nächster Nähe schossen, sondern auch die Grausamkeit des mörderischen Plans, wonach bis zu 6.000 Konzertbesucher in einer brennenden Halle sterben sollten. Nach der letzten Zählung sind bislang 137 Menschen bei dem Anschlag ums Leben gekommen.
Die Aufräum- und Bergungsarbeiten in der verbrannten Halle werden in einem 24-Stunden-Einsatz von mehr als 300 Mitarbeitern ausgeführt. Nach und nach wird die Fläche im Konzertsaal freigelegt. Die verkohlten menschlichen Überreste, die dabei gefunden werden, können nur mithilfe von DNA-Analysen identifiziert werden. Bislang sind erst 68 Opfer identifiziert.
Unter ihnen ist auch die Vize-Leiterin der Band, die an diesem Abend auftreten musste. Die 1978 gegründete Gruppe "Picknick" gehört zu den Veteranen der russischen Rock-Szene. In den 1980er- und 1990er-Jahren stand die Band jedoch im Schatten der anderen Stars der damaligen sowjetisch-russischen Rockmusik – "Aquarium", DDT, "Nautilus-Pompilius". Im zurückliegenden Jahrzehnt fand "Picknick" jedoch späten Ruhm. Heute genießt die Band Kult-Status und spielt in stets ausverkauften Hallen.
Im Unterschied zu vielen anderen früheren Rock-Größen hat Picknick die russische Spezialoperation in der Ukraine unterstützt. Nicht mit öffentlichen Bekundungen, sondern mit humanitären Spenden und dem Verzicht auf öffentliche Kritik an der Regierung. Das zieht auch patriotisch gesinnte Fans an, die vom "verräterischen" Verhalten vieler anderer Rock- und Popstars, enttäuscht sind.
Es wird spekuliert, dass laut einem ursprünglichen Plan der Terroranschlag eigentlich einem der Konzerte des Pop-Sängers Schaman am 9., 10. und 11. März gelten sollte – kurz vor der Präsidentschaftswahl. Am 7. März warnte das US-Außenministerium vor terroristischen Anschlägen auf öffentliche Versammlungen und erwähnte explizit die Konzerte.
Die 2009 eröffnete Crocus City Hall gehört zu den modernsten und besten Bühnen Russlands. Es war mehr als wahrscheinlich, dass ausgerechnet diese Halle zum Ziel einer terroristischen Attacke werden würde. Der Sänger Schaman gab noch am Freitag bekannt, dass er die Behandlung und Rehabilitation der Verletzten sowie die Beerdigung der Todesopfer finanziell übernehmen werde. "Wir sind alle eine Familie. Und in einer Familie gibt es keine fremde Trauer", sagte er in einer Videobotschaft.
Am nächsten Tag schrieb der Sänger das Gedenklied "Requiem" und veröffentlichte es am Sonntag auf YouTube. Das Lied, das nach zehn Stunden mehr als drei Millionen Mal aufgerufen wurde, enthält die Worte:
"Ich kann den Schmerz in meiner Seele nicht wegnehmen. Aber ich weiß, dass wir nicht gebrochen werden können. Und wir können uns nicht länger zurückziehen."
Solche Gesten muntern die Menschen in ihrer Trauer auf. Ihre Einigkeit zeigt sich in den Warteschlangen zum Blutspenden, in der Spendenbereitschaft und in den zahllosen großen und kleinen spontanen Gedenkveranstaltungen landesweit. Es zeigt sich ein altes Phänomen: Die Terrorgefahr vereint das Land, denn jeder kann zu einem beliebigen Zeitpunkt zum Opfer des Terrors werden.
Seit Mitte der 1990er-Jahre fielen in Russland mehr als 3.000 Menschen dem Terror zum Opfer. Das Lied "Leben", das die russische Sängerin Polina Gagarina vor sieben Jahren ebenfalls auf YouTube veröffentlichte, ist innerhalb eines Tages zwanzig Millionen Mal aufgerufen worden. Das Lied ist den Opfern der Terroranschläge in Russland gewidmet. In eine aktuelle Version sind die dramatischen Bilder der brennenden Crocus City Hall implementiert worden. Seit dem Jahr 2010 hat es in Russland keine Anschläge mehr mit mehr als 40 Opfern gegeben.
Zum Abschluss des Trauertages haben die Moskauer Tausende Kerzen in Begleitung des legendären Lieds "Kraniche" angezündet. Die Kerzen bildeten zusammen die Form von Kranichen sowie die Worte "Wir trauern. 22.03.2024".
Mit der Trauer kommt auch die Wut. Russland ist im Krieg und die Suche nach den Hintermännern der Tat läuft ununterbrochen weiter. Die Hinweise auf den angeblich radikal-islamistischen Hintergrund der Tat halten viele Experten für eine falsche Fährte der ukrainischen Spezialdienste. Der Militärkorrespondent Jewgeni Poddubny zog in einem Kommentar für RT einen Vergleich zum Artillerieterror der Ukraine gegen die Region Belgorod. Er schrieb:
"Der Terroranschlag in der Hauptstadt ist schrecklich. Er ist ein Versuch, uns in die frühen 2000er-Jahre zurückzuversetzen, uns wieder in ein Gefühl der Angst und Unsicherheit zu versetzen. Aber es kommt nur Wut auf. Wir wissen, wer unser Feind ist. Wir wissen, dass wir ihn niedertrampeln müssen.
Der Terroranschlag auf Crocus ist außerdem unmenschlich, blutig und kam mit voller Wucht. Aber eben solch ein Terroranschlag, zeitlich gestreckt, ist jetzt gerade im Gange. In den vergangenen zwei Wochen sind in der Region Belgorod 24 Menschen durch den Beschuss von Wohnvierteln getötet worden. Und solange der Feind die Möglichkeit hat, unsere Städte zu treffen, wird er das auch tun. Die AFU-Artilleristen unterscheiden sich nicht von den Mistkerlen, die in der Konzerthalle auf Menschen geschossen haben."
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