Von Marinko Učur
Ob der ungarische Premierminister Viktor Orbán hellsichtig ist oder die politischen Prozesse in Europa und der Welt einfach nur anders begreifen kann, ist schwer zu sagen. Aber diese Frage taucht ja in den Kreisen von Medien und Politikern häufig auf. Allerdings kann man Orbáns außergewöhnliche Fähigkeiten zum Antizipieren von Ereignissen nicht ignorieren, über die viele europäische Staats- und Regierungschefs offenbar nicht verfügen. Diese Fähigkeit stellte der erste Mann der ungarischen Regierung am vergangenen Wochenende erneut unter Beweis, als er behauptete:
"Serbien muss so schnell wie möglich in die Europäische Union aufgenommen werden, sonst wird Brüssel verlieren."
Es ist nicht schwer zu erahnen, dass Orbán als erster Nachbar Serbiens erkannte, dass dieses Land nicht endlos im europäischen Vorzimmer warten kann und dass es höchste Zeit ist, einen Weg aus der Sackgasse zu finden.
In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse sagte Orbán, dass man sich in Belgrad im Falle einer weiteren Verzögerung des EU-Beitritts für die Zusammenarbeit mit anderen Partnern entscheiden könne.
Nur Uninformierten bleibt unklar, wen Orbán damit meinte. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass es für Serbien ermüdend geworden ist, endlos auf Signale aus Brüssel für eine Mitgliedschaft in dieser Union zu warten. Allerdings stellt die Brüsseler EU-Administration gegenüber Belgrad immer wieder neue Bedingungen und Ultimaten auf, die in Serbien selbst zu wachsender EU-Skepsis geführt haben.
Wie kann Brüssel Serbien als ernsthaftesten und reifsten Beitrittskandidaten verlieren?
Ganz einfach: Orbáns Worte werden auch viele serbische Amtsträger bestätigen. Serbien wird keine Wahl gelassen: Entweder wird es die Usurpation und Besetzung von Teilen seines eigenen Territoriums akzeptieren (die selbsternannte abtrünnige Provinz Kosovo stellt 15 Prozent des Staatsgebiets Serbiens dar) oder es wird seinen eigenen Weg beschreiten, der dieses Land unweigerlich "in die Hände Russlands und Chinas schieben wird", wie man in Brüssel gerne behauptet. Und tatsächlich bedeutet das offizielle serbische Bekenntnis zur EU-Mitgliedschaft derzeit nicht viel, da man in Brüssel, mit der eigenen proukrainischen Agenda beschäftigt ist und die Erweiterung der Mitgliederzahl ans Ende der Prioritätenliste geschoben hat.
Doch Serbien hat es wirklich eilig. In Belgrad hielt man jedem Druck stand und ließ die traditionellen Freunde auf der Welt nicht im Stich. Serbien hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Der Flugverkehr mit Moskau und Sankt Petersburg verläuft reibungslos. Im Oktober letzten Jahres wurde mit China ein Freihandelsabkommen unterzeichnet.
Serbien hat auch eine andere Wahl, und die ist sogar nach derzeitigem Stand immer aussichtsvoller. Offensichtlich bezog sich Viktor Orbán in seinem Interview mit diesem österreichischen Medium auf diese Möglichkeiten Serbiens. Es scheint, dass Brüssel mit seinem Vorgehen Serbien lediglich in die Hände derjenigen schiebt, die der Westen als Feinde wahrnimmt.
Andererseits betrachtet Serbien diese Länder, insbesondere die Russische Föderation, als seine traditionellen Freunde und Verbündeten. Es ist schwer vorstellbar, was passieren würde, wenn Serbien aufgrund der fragwürdigen europäischen Zukunft seinen Kurs gänzlich ändern und die politischen Prozesse in Richtung Osten und einer eurasischen Partnerschaft intensivieren würde.
Russophobe prowestliche Elemente in bestimmten, wenn auch randständigen Kreisen der serbischen Opposition würden dies als "Weltuntergang" betrachten. Ihre Plattitüde, Serbien habe einen Platz in der EU, sogar in der NATO, schwindet immer mehr und wurde aufgrund der "kalten Dusche" aus Straßburg letzte Woche und des Versuchs von Europaabgeordneten, sich in den Wahlprozess in Serbien einzumischen, entlarvt.
Die eingangs erwähnte Erklärung des ungarischen Premierministers erfolgte nur wenige Tage nach der unverbindlichen Erklärung des Europäischen Parlament, eine internationale Untersuchung der angeblichen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im vergangenen Dezember in Serbien zu fordern.
Solche Positionen, auch wenn sie unverbindlich sind, gießen Öl ins Feuer und verwirren die serbischen Bürger, die der Erpressungen aus Brüssel ohnehin schon überdrüssig sind. Deshalb könnte dieses Jahr eine Neupositionierung der serbischen Außenpolitik und ein klares Bekenntnis bringen, alle Karten offen auf den Tisch zu legen.
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