Von Wladislaw Sankin
Russlands Verhältnis zur Ukraine war eines der dominierenden Themen im viel beachteten Interview des US-Journalisten Tucker Carlson mit Wladimir Putin. Der russische Präsident nutzte diese "öffentliche Sprechstunde", um die geschichtlichen Hintergründe des Ukraine-Konflikts noch mal ausführlich zu beleuchten. Die Zeit, die Putin dazu nutzte, überschritt teilweise die Erwartungen des Journalisten, der Putin in einem Moment fragte, warum Russland die Ukraine 22 Jahre lang als unabhängigen Staat anerkannt hatte, während es ihr Territorium zumindest teilweise als russisches historisches Gebiet betrachtet.
Dazu sagte Putin im Grunde nichts Neues – Russland könne auch mit einer unabhängigen Ukraine nachbarschaftlich gut leben, nicht aber mit einer mit NATO-Basen und einem illegitimen nationalistischen Regime, das der russischen Bevölkerung das Recht abspricht, ein in der Ukraine einheimisches Volk zu sein. Immer wieder kam das Gespräch auf die Perspektiven, den Konflikt am Verhandlungstisch beizulegen – dem US-Amerikaner ging es darum, einer drohenden nuklearen Eskalation zwischen Russland und USA zuvorzukommen. Jedes Mal betonte Putin, dass er nach dem Scheitern der Istanbuler Verhandlungen im März 2022 nun mal Friedensinitiativen vom Westen erwarte.
"Ich sehe es nicht nur, ich weiß, dass sie es wollen (die Verhandlungen), aber sie wissen nicht, wie ... Nicht wir, sondern unsere 'Partner', unsere Gegner haben es so weit gebracht. Jetzt sollen sie sich überlegen, wie sie es wieder rückgängig machen können. Wir sagen nicht Nein", sagte Putin am Ende des Gesprächs.
Zuletzt ließ sich Carlson auf ein Gedankenspiel ein – ob das Einfrieren des Konflikts an der derzeitigen Frontlinie für die jeweilige Kriegspartei einen Gesichtsverlust bedeute. Putin kam in seiner Antwort auf innenpolitische Probleme in der Ukraine zu sprechen – "endlose Mobilisierung", ökonomische Probleme, allgemeine Hysterie. Dann kam es zu einer abschließenden Bemerkung, die den ukrainischen Teil des Interviews abrundete. Zur Perspektiven der Aussöhnung zwischen Russen und den Ukrainern sagte Putin:
"Früher oder später werden wir uns sowieso einigen. Und wissen Sie was? Es mag in der gegenwärtigen Situation seltsam klingen, aber die Beziehungen zwischen den Völkern werden wiederhergestellt werden. Es wird lange dauern, aber es wird gelingen."
Dann erzählte Putin eine Anekdote aus dem Soldatenleben, die seinen Gedanken stützen sollte. Die russischen Soldaten hätten in einer Kampfsituation den umzingelten Ukrainern zugerufen, dass sie sich ergeben sollten, wenn sie lebend herauskommen wollen. "Und plötzlich schreien sie in gutem Russisch", so Putin weiter: "Russen ergeben sich nicht!" Danach starben sie im Kampf. Putin schlussfolgerte:
"Sie fühlen sich immer noch als Russen. Insofern ist das, was da passiert, bis zu einem gewissen Grad ein Element eines Bürgerkriegs. Und jeder im Westen denkt, dass die Kämpfe einen Teil des russischen Volkes für immer vom anderen Teil trennen. Nein, es wird eine Wiedervereinigung geben. Die Einheit war nie weg."
Ob bewusst oder nicht, aber an dieser Stelle appellierte Putin an das für US-Amerikaner verständliche Sprachbild eines Bürgerkrieges. Auch der Kriegskorrespondent Alexander Koz erzählte daraufhin in einem KP-Artikel eine ähnliche Geschichte, die sich Ende 2014 bei den Kämpfen im eingeschlossenen Donezker Flughafen ereignet hatte. "Russen ergeben sich nicht", hatten die Ukrainer geschrien und die ukrainische Hymne gesungen. "Wir kämpfen mit unserem Spiegelbild", hatte ein Kommandeur der Donezker Volkwehr dazu gesagt. "Der Gegner hat die gleichen moralischen Maximen, die gleichen Werte im Kampf."
Jeder, der die Situation an der Front kennt, weiß, dass diese Geschichten nicht erlogen sind, zumal ein Großteil der ukrainischen Kämpfer aus den russisch geprägten Regionen der Ukraine rekrutiert wird. Die westlichen Beobachter sind im Glauben, dass die Ukraine einen Prozess der Nationenbildung durchläuft und dass die Ukrainer nun nach Beginn des angeblichen russischen "Vernichtungskrieges" erst recht ein für alle Mal von den Russen getrennt sind – getreu dem Maidan-Lied aus dem Jahr 2014 "Wir werden nie Brüder". Den russisch-ukrainischen Konflikt in die Nähe eines ethnischen Konflikts zu rücken, folgt allerdings einer durchkalkulierten Spaltungsstrategie, die darauf abzielt, dass beide Seiten des Konflikts einander das größtmögliche Leid zufügen. Anstelle eines Verwandten sollte die Gegenpartei beiden Seiten als fremder "Anderer" erscheinen.
Darum bemühen sich auch die Medien wie etwa die Berliner Zeitung in einem Interview mit der ukrainischen Politologin Janina Sokolowskaja. Auf die Frage des Journalisten "Wird es je wieder gutnachbarliche Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern geben?" antwortete sie Folgendes:
"Für die Mehrheit der Ukrainer war der russische Einmarsch ein Schock. Die meisten hatten Russland ja als befreundet wahrgenommen. Am schlimmsten war es für die Bevölkerung im Süden und Osten. Dort besaßen viele Menschen eine quasi russische Identität. Der Krieg und die Zerstörungen haben sie eines Besseren belehrt. Daher ist es auch sinnlos, an die Normalisierung irgendwelcher Beziehungen zu denken. Der Hass steckt im Blut, in den Genen und in den Chromosomen."
Die Zeit wird zeigen, ob der russische Präsident doch Recht hat. In Russland nehmen sehr viele den Konflikt mit der Ukraine als Bruderzwist wahr. Vieles kommt darauf an, ob es Russland gelingt, eine Friedensordnung mit Zukunftsperspektiven in der Nachkriegsukraine und in den Gebieten herzustellen, die Russland zurückerobern wird. Der Westen wird dieses künftige Zusammenleben mit großer Wahrscheinlichkeit mithilfe von Propaganda, Sanktionen und Sabotage stören – und Russland wird sich dem wie gewohnt widersetzen.
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